Aufruhr im Paradies Das Deutsche Guggenheim zeigt
Divisionismus/Neoimpressionismus: Arkadien und Anarchie
Mit flirrenden Farben und sozialen Themen revolutionierten die
Divisionisten am Ende des 19. Jahrhunderts die Malerei Italiens. Jetzt
bringen ihre Bilder das Deutsche Guggenheim zum Leuchten: die Schau
Divisionismus/Neoimpressionismus: Arkadien und Anarchie setzt erstmals
die Gemälde der italienischen Avantgardisten mit denen ihrer Zeitgenossen
aus Frankreich in Beziehung.

Vittore Grubicy de Dragon Nebelmeer
(Mare di nebbia), 1895
©Privatsammlung
Von einem Baugerüst
herab wendet sich der Maurer an die streikenden Arbeiter. Zur Faust
geballt schwebt seine linke Hand hoch über der Masse, die sich auf dem
großen Platz drängt. Der revolutionäre Elan des Agitators reißt die Männer
mit und die ersten Fäuste recken sich ihm entgegen.
Emilio Longonis Gemälde Der Streikredner entstand im Jahre
1891 und hält die Ereignisse des 1. Mai im Jahr zuvor fest, ganz so, wie
sie der Maler hautnah miterlebt hat: Demonstranten, die rote Fahnen wehen
lassen, Soldaten, die ihre Bajonette gegen die Streikenden richten, die
Trambahn, die als Barrikade dient. Eine Komposition wie aus einem
russischen Revolutionsfilm.
Das Thema Streik war ein Novum für die
italienische Kunst. Und ausgesprochen progressiv war auch der Malstil,
dessen sich der aus einer Arbeiterfamilie stammende Künstler bediente: der
Divisionismus, die Zerlegung von Farbflächen in nebeneinander gesetzte
Pinselstriche. Dieser Technik verdankt eine Gruppe italienischer Künstler
ihren Namen, die versuchte, mit ihren Arbeiten an die fortschrittlichen
Entwicklungen der europäischen Kunst anzuschließen. Lange galten die
Divisionisten nur als Epigonen der französischen
Neoimpressionisten und wurden außerhalb Italiens kaum beachtet. Doch jetzt
kann man die Pioniere der italienischen Moderne in einer opulenten Schau
in Berlin neu entdecken. Mit
Divisionismus/Neoimpressionismus: Arkadien und Anarchie lässt das
Deutsche Guggenheim erstmals beide Kunstströmungen in einer Ausstellung
miteinander in Dialog treten.

Camille Pissarro, Apfelernte bei Éragny, 1888
Dallas Museum of Art Foto/© Dallas
Museum of Art, Munger Fund
Beide
künstlerische Bewegungen spiegeln in ihrer Malerei den kulturellen Wandel
des auslaufenden, vormodernen 19. Jahrhunderts wider, in dem soziale und
naturwissenschaftliche Umbrüche die Wahrnehmung der Welt revolutionierten:
"Der an sich dunkle Gegenstand erhält alles Leben durch die Sonne. Aber
diese Lichtwellen, die ihn umhüllen, die ihn durchdringen, die ihn in die
Welt ausstrahlen lassen, sind in dauernden Wirbeln leuchtende
Blitzstrahlen, Sprühregen des Lichtes, Stürme an Helligkeiten. Was wird
aus dem Modell unter dieser Raserei lebendiger Atome, durch die es
durchsichtig wird, für uns sichtbar, für uns zur Existenz erwacht? Das
muss man heute verstehen, das muss man heute durch die Malerei ausdrücken,
das muss das Auge zerlegen und die Hand wieder zusammensetzen." Was der
französische Journalist und Politiker
Georges Clemenceau angesichts der Gemälde von
Monet niederschrieb, scheint auch für die Bilder der Divisionisten zu
gelten. Auch sie studierten ganz genau die Wirkungen des Lichts, lösten
ihre Motive in winzige Farbfragmente auf, um sie dann wieder
zusammenzufügen. Die Atomisierung von Licht, Farbe und Blick entsprach der
Zeit. Die rasant fortschreitende Industrialisierung, Verstädterung,
politische Unruhen, technischer Fortschritt – das alles ließ sich nicht
mehr in traditioneller Feinmalerei bewältigen. Und auch bedeutende
wissenschaftliche Entdeckungen stellten das überkommene statische Weltbild
radikal in Frage: Bereits 1820 wurde die
Brownsche Molekularbewegung entdeckt, 1864 veröffentlicht
James Clerk Maxwell seine Theorie zur elektromagnetischen Natur des Lichts
und 1897 weist
Joseph Thomson die Existenz der Elektronen nach.

Georges Seurat, Abend, Honfleur (Soir, Honfleur), 1886
Museum of Modern Art, New York, ©The
Museum of Modern Art/Licensed by SCALA/Art Resource, NY
Die Maltechnik der Divisionisten entstand aus der Auseinandersetzung mit neuen
wissenschaftlichen Erkenntnissen. Eine der Grundlagen waren die Schriften
des französischen Chemikers
Eugène Chevreul, der als Direktor der königlichen
Manufacture des Gobelins in Paris die Wirkungen des Zusammenspiels der
Farben systematisch erforschte. In seinem 1839 erschienenen Werk De la
loi du contrast simultané des couleurs beschreibt er, dass sich
die Leuchtkraft der Farben erhöht, wenn man sie ungemischt nebeneinander
setzt statt sie zu vermischen. Wie die französischen Neoimpressionisten
überziehen deshalb auch die Divisionisten ihre Gemälde mit unzähligen
Punkten und Strichen aus reinen Farben. Die Töne werden nicht auf der
Palette oder Leinwand gemischt, sondern die Farbeindrücke entstehen erst
aus einer gewissen Entfernung im Auge des Betrachters. Der Zerlegung –
französisch: Division, italienisch: Divisione – des Motivs in kleinste
Pinselstriche verdankt der Stil seinen Namen.
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Angelo Morbelli, Für Achzig Cents! (Per
ottanta centesimi!)), 1895
Fondazione Museo Francesco Borgogna
Foto: G. Gallarate ©Fondazione Museo
Francesco Borgogna
Dieser neuen Art zu malen
begegnete man in Italien anfangs häufig mit massiver Ablehnung. "Das
System, das die Oberfläche des Gemäldes aussehen lässt wie eine Haut, die
entzündet oder von Scharlach befallen ist, hat seine Wurzel in der
Wissenschaft, und es ist eine ausländische Entdeckung, die in den
Ausstellungen des Salon des Refusés in Paris angetroffen werden kann",
polemisierte etwa der einflussreiche konservative Kritiker Luigi Chirtani.
Er bemühte dabei das in den antimodernen Texten des Fin de Siècle häufig
verwendete Motiv, fortschrittliche Kunst als krank zu diffamieren –
besonders beliebt natürlich, wenn es sich um eine Kunst handelt, die
"fremdländische Einflüsse" aufnimmt. Gerade in dieser jungen Nation – erst
1861 hatte das Königreich Italien die nationale Einheit erlangt – stieß
der Abschied von der malerischen Tradition auf erbitterten Widerstand.
Angesichts gerade der ländlichen Szenen – eines der beliebtesten Sujets der
Divisionisten, mit dem sie ja an gängige Bildthemen anknüpften – ist diese
vehemente Ablehnung heute kaum noch nachzuvollziehen. Einige der kitschig
anmutenden Verherrlichungen dörflicher Idyllen haben ihre damalige
provokative Kraft mittlerweile völlig eingebüßt. Anders verhält es sich
allerdings mit
Angelo Morbellis Schilderung der harten Arbeit in den Reisfeldern der
Poebene. In einer Reihe stehend pflanzen Saisonarbeiterinnen die Setzlinge
in die überfluteten Felder, die bis zum Horizont reichen. Die scheinbar
endlosen Reihen der Reispflanzen, die flirrenden Farben, die Lichteffekte,
die im unruhigen Wasser zerfließenden Spiegelbilder der Frauen –
divisionistische Malweise und Sujet gehen hier eine perfekte Symbiose ein.
Zusätzlich verdeutlicht auch der Titel des Gemäldes Für
achtzig Cents! die gesellschaftskritische Intention des Künstlers.

Henri-Edmond Cross, Nocturne mit Zypressen (Nocturnee aux cyprès), 1896
Association des Amis du Petit-Palais, Genève
Foto: Studio Monique Bernaz, Genève
©Association des Amis du Petit-Palais, Genève
Camille Pissarro schildert auf Apfelernte in
Éragny (1888) ebenfalls eine ländliche Szene. Gemächlich werden
im gleißendem Sonnenlicht eines Spätsommertags in der Normandie die
Früchte zusammengeklaubt. Obwohl auch der Pionier des Neoimpressionismus
eine idealisierte Szene zeigt, bleibt er mit seiner fast grellen
Farbigkeit und abstrahierenden Komposition weit entfernt von den weitaus
naturalistischeren, süßlicheren Darstellungen vieler Italiener. Das
harmonische Leben im Einklang mit der Natur, das im krassen Gegensatz zur
Welt der Großstadt und Industrialisierung steht, ist ein beliebtes Thema
der Neoimpressionisten. Viele dieser Künstler, vor allem
Paul Signac, sympathisierten mit anarchistischen Ideen. Allerdings waren
für sie damit keine gewaltsamen Umstürze verbunden, sondern die
Vorstellung von einem selbstbestimmten Dasein, einer Art "Goldenem
Zeitalter der Anarchie". Signac ging es darum, in seinen Gemälden die
"Harmonie der Komposition" mit einer "Harmonie der Moral" zu verbinden.
Von den Arbeiten seiner italienischen Kollegen war Signac nicht begeistert.
Anlässlich einer Ausstellung divisionistischer Gemälde in einer Pariser
Galerie notierte er in seinem Tagebuch: "Zwei oder drei gerissene Burschen
und ein paar Nichtkönner. Schraffuren, Punkte Blasen, alles ohne Kontrast
und Harmonie. Kein Maler darunter". Und er beschwert sich, dass ihnen die
Italiener auch noch den Namen "Divisionismus" gestohlen hätten. Dabei
liefen die Entwicklungen in Frankreich und Italien relativ getrennt
voneinander ab, denn die italienischen Künstler hatten so gut wie keine
Gelegenheit, die Kompositionen der Neoimpressionisten im Original zu
studieren. Sie waren ihnen nur durch Abbildungen in Zeitschriften bekannt.
So kann man im Deutsche Guggenheim auch erkennen, wie eigenständig die
Themen und Malweisen der Divisionisten sind: Morbelli setzt Schraffuren
paralleler Pinselstriche nebeneinander, bei
Pellizza wechseln feinste Linien, Punkte und Pinselhiebe einander ab,
während Previati in
seinen dekorativen Allegorien die Leinwände mit fließenden, organischen
Linien bedeckt.

Gaetano Previati, Der Tanz der Stunden (La danza delle ore),ca. 1899
Fondazione CARIPLO, Milan
Foto:Sandro R. Scarioni fotografo milano
©Fondazione CARIPLO, Milan
Dass die einst
fortschrittliche Art zu malen allmählich ihren Reiz verlor, beklagte ein
progressiver Kritiker bereits anlässlich der Biennale von Venedig 1905.
Doch die nächste Revolution in der italienischen Kunst stand schon
unmittelbar bevor. Divisionistische Maler wie
Giacomo Balla oder
Umberto Boccioni waren bereits auf der Suche nach einem neuen Stil, um die
Dynamik ihrer Zeit noch besser reflektieren zu können. Schon bald wurden
sie fündig: Indem sie die Technik der Farbzerlegung mit der Formensprache
des Kubismus und
der Simultandarstellung verbanden, schufen sie mit dem
Futurismus die Avantgardebewegung, mit der Italien einen entscheidenden
Impuls für die Weiterentwicklung der Moderne geben sollte. Pastorale
Idyllen waren damit passee, Stattdessen zelebrierten die Futuristen den
Rausch der Geschwindigkeit und die Schönheit der Maschinen. Als Italien
1915 in den Krieg eintrat, eilten die Futuristen bereitwillig zu den
Fahnen - als Anhänger eines Krieges, der für sie gemäß dem
Gründungsmanifest die "einzige Hygiene der Welt" darstellte. Bereits kurz
nach Anbruch der Moderne endete die Utopie eines anarchischen,
harmonischen Arkadiens auf den Schlachtfeldern Europas. Achim Drucks
Divisionismus/Neoimpressionismus: Arkadien und Anarchie 27. Januar –
15. April 2007 Deutsche Guggenheim, Berlin
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