"In fantastischer Gesellschaft"
Was macht den Menschen aus? In der Kunsthalle Tübingen zeigt die Ausstellung
Man in the Middle - Menschenbilder vom 13.9.-2.11.2003 künstlerische
Menschenbilder des 20. Jahrhunderts aus der Sammlung Deutsche Bank.
Im Herbst 1912 besuchten
Constantin Brancusi,
Marcel Duchamp und
Fernand Leger den Luftfahrtsalon im Pariser Grand Palais. Plötzlich sagte
Duchamp zu Brancusi: "Die Malerei ist am Ende. Wer kann etwas Besseres
machen als diese Propeller? Du etwa?" Angesichts all der neuen
glänzenden Automobile, Flugzeuge, Maschinen – was konnte ein Künstler
darauf antworten? Welche Bedeutung hatte überhaupt noch ein einzelner
Mensch? Wie konnte er mit der Schönheit und Nützlichkeit der Apparate
konkurrieren? Der Erste Weltkrieg, der zwei Jahre später ausbrach,
sollte zeigen, dass die Apparate nicht nur schön, sondern auch tödlich
waren.
Karl Hofer,
Arbeitslose, 1932, Sammlung Deutsche Bank
Der Krieg konnte das Individuum nicht auslöschen, auch wenn für einen
Maler wie
George Grosz der Mensch nur noch als "kollektivistischer, fast
mechanischer Begriff" denkbar war. Die fünf Arbeitslosen etwa in
Karl Hofers gleichnamigem Bild mag ein ähnliches Schicksal verbinden. Doch
sieht man genauer hin, fällt auf, dass jeder abwesend in eine andere
Richtung starrt. Auch in der Gruppe ist jeder für sich allein – ein
eigenes Individuum mit einem eigenen Schicksal und seinen eigenen
Gedanken. Erich Heckel, der sich freiwillig zum Roten Kreuz gemeldet
hatte, zeichnete beispielhaft für das einsame Sterben in der Masse einen
einzelnen toten Soldaten in Flandern. Neben seinem Gesicht mit dem
verzerrten Mund sieht man einen Fußabdruck - als sei jemand ohne
anzuhalten an dem Toten vorbeigelaufen.
Oder man betrachte
Max Pechsteins Große Mühlgrabenbrücke. Pechstein
malte das Bild 1921 in dem Dorf Leba in Hinterpommern, wo er den Sommer
verbrachte. Das Dorf liegt wie ausgestorben da. Nur ein einziger Mensch
ist mitten auf der Landstraße zu sehen. Die Isoliertheit dieser Figur
mag auch Pechsteins eigene Situation widerspiegeln. Als Mitglied der
Brücke hatte er sich gegen den tradierten Malstil der
Akademien gewandt. Doch schon 1912 trat er aus der Brücke
wieder aus, weil er ihren Entschluss, nur noch gemeinsam auszustellen,
als Einschränkung empfand. Nach einer Reise zu den Palau-Inseln
(Südpazifik) und einem Jahr an der Front, gründete er 1918 zusammen mit
Erich Mendelsohn und
Rudolf Belling die Künstlervereinigung
"Novembergruppe", die sich politisch zur
Novemberrevolution bekannte und deren Impulse in den Bereich der Kunst
übernehmen wollte. Aber auch hier trat er 1920 wieder aus. 1933 fand
sich
Pechstein erneut in einer "Gruppe" wieder: Er gehörte zu den vielen
Künstlern, deren Bilder von den Nationalsozialisten verfemt wurden. 1937
wurden seine Werke, wie auch die von
Schmidt-Rottluff,
Kirchner,
Beckmann und vielen anderen, in der Münchener Ausstellung
Entartete Kunst verhöhnt.
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Max Pechstein, Große
Mühlgrabenbrücke - Leba/Hinterpommern, 1921
Sammlung Deutsche Bank
Der
Bann traf auch
Emil Nolde, obwohl er ein offener Befürworter der Nationalsozialisten war.
Noldes humorvoll überzeichnete Frauenfiguren, wie er sie etwa in seiner
Phantasie von 1931 mit spitzer Nase und formlosen Körpern gemalt hatte,
wurden zum Anlass genommen, ihn des Rassenverfalls zu bezichtigen. 1933
wurde Nolde aus der Preußischen Akademie ausgeschlossen, 1941 erhielt er
Malverbot.
Mit knapp hundert Zeichnungen, Gemälden, Skulpturen und
Fotografien aus der Sammlung Deutsche Bank dokumentiert die Ausstellung
Man in the Middle - Menschenbilder, die zuvor schon in der Eremitage
in St. Petersburg und der Neuen Weserburg in Bremen gezeigt wurde, das
sich wandelnde Menschenbild von der Moderne bis in die unmittelbare
Gegenwart. Die vielfältigen künstlerischen Positionen, die ab 13.
September in der
Kunsthalle Tübingen vorgestellt werden, eröffnen die Sicht auf eine
Epoche, die wie keine andere gleichermaßen von kollektiven Visionen und
dem Ringen um individuelle Selbstbestimmung geprägt ist. Nach der
Ausstellung
Landschaften eines Jahrhunderts, die seit 1999 durch Deutschland
tourte und zuletzt 2002 in der South African National Gallery in Kapstadt
zu sehen war, konzentriert sich jetzt Man in the Middle - Menschenbilder
als thematische Ausstellung der Sammlung Deutsche Bank auf den künstlerischen
Entwurf des Menschen im 20. Jahrhundert und den kulturellen Wandel, der
sich in seinen unterschiedlichen Abbildern wiederspiegelt. Dabei setzt sie
einen Schwerpunkt auf die klassische Moderne.

Otto Dix, Großstadt (Entwurf zu Großstadttriptychon), 1926,
©VG Bild-Kunst, Bonn 2002
Von den Vertretern
des deutschen Expressionismus wie Ludwig Ernst Kirchner oder Max Beckmann,
die mit ihrem formalen Bekenntnis zum Primitiven ursprüngliche
existenzielle Werte einforderten, bis zu
Cornelia Schleime, die ihr Selbstbild ironisch in ihre Stasiakten
montierte und damit eine neue Reflexion der deutschen Geschichte
einleitete:
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