Himmlische Orte
Im ehemaligen
Industrieviertel Mailands hat der deutsche Künstler Anselm Kiefer sieben
hohe Türme aus Betonplatten und Bleielementen geschaffen, die die jüdische
Tradition der Kabbala mit zeitgenössischen Formen verknüpfen
Der Mailänder Bezirk Bicocca hat in den letzten Jahren eine erstaunliche
Entwicklung durchgemacht, die inzwischen fast abgeschlossen ist: Die
verlassenen Fabriken des ehemaligen Industrieviertels, allen voran das
alte Pirelli-Areal, wurden zu Dienstleistungsstandorten für gehobene
Ansprüche umgebaut. Mittlerweile befindet sich dort nicht nur die neue
Zentrale der Deutschen Bank,
mit landesweit 5.500 Mitarbeitern die größte ausländische Bank in Italien,
sondern auch eine Ausstellungshalle für zeitgenössische Kunst: der
Bicocca-Hangar.

Zwei der sieben Türme im Probeaufbau vor
Anselm Kiefers Atelier im französischen Barjac, 2004
In dieser riesigen, 60 Meter breiten, 180 Meter langen und 30 Meter hohen
Halle ist nun als Eröffnungsausstellung ein ausgesprochen ambitioniertes,
von der italienischen Kuratorin
Lia Rumma organisiertes Projekt realisiert worden, das die Deutsche Bank
als Sponsor tatkräftig unterstützt hat. Die Großinstallation
The seven heavenly Palaces des deutschen Künstlers
Anselm Kiefer besteht aus sieben, zwischen 13 und 16 Meter hohen Türmen
aus Betonplatten und Bleielementen, mit denen Kiefer eine Konstante seines
über dreissigjährigen künstlerischen Schaffens aufgreift: die
Beschäftigung mit dem Spannungsfeld zwischen Mythologie, Astrologie und
den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften.

Aufbau eines Turmes im Hangar Bicocca
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Installationsansicht der sieben Türme im
Hangar Bicocca
Kiefer, 1945 in Donaueschingen
geboren und weltweit seit langem als einer der bedeutendsten deutschen
Künstler anerkannt, hat den sieben Türmen jeweils einen eigenen Namen
gegeben. Sie lauten: "Falling Stars", "Sternenlager", "Die Sefiroth",
"Tzim-Tzum", "Shevirat Ha-Kelim", "Tiqqun" und "The Seven Heavenly
Palaces". Ein wichtiger Bezugspunkt war für Kiefer dabei der
Schöpfungsmythos der alten jüdischen mystischen Literatur, in dem die
Teilhabe der Menschen am göttlichen Urspruch beschrieben wird. Doch hat
der Künstler noch weitere Referenzen in seiner Arbeit berücksichtigt. Eine
davon ist im Gegensatz zum Vorhergehenden dezidiert zeitgenössisch: Durch
die Verwendung des Materials Beton, aber auch durch die Orientierung am
Normalmaß eines Schiffscontainers schafft Kiefer Verbindungen zu unserer
von Globalisierung und nie dagewesenen Möglichkeiten geprägten Gegenwart.
Den so zum Ausdruck kommenden, auf mehreren Ebenen angelegten
Universalismus versteht Kiefer, der seit 1993 in Barjac in Frankreich lebt
und arbeitet, als treffendes Abbild der Zeit zu Beginn des 21.
Jahrhunderts. Die Querverweise und Symboliken, auf die Kiefer in The
seven heavenly Palaces hinweist, sind zahlreich. Mit dem Turm
"Sefiroth" beispielsweise rekurriert der Maler, Bildhauer und
Installationskünstler auf jene drei mythologischen Wege, die der
Menschheit der alten jüdischen Überlieferung zufolge offen stehen, um dem
Leben Ordnung und Sinn zu verleihen: den der Liebe, der Anteilnahme und
der Kraft.
Weitere Assoziationen ergeben sich
aus den einzelnen Bestandteilen der Türme, für die neben den Betonplatten
mehr als einhundert Buchskulpturen aus Blei sowie über siebentausend
"fallende Sterne" aus Glas nach Anleitung Kiefers von Kunststudenten der
Accademia di Brera hergestellt wurden. So hat der Künstler in den
Betonplatten rundliche Öffnungen frei gelassen, damit durch sie hindurch
Licht scheinen kann - frei nach jener berühmten Stelle in dem Buch
Zohar, eine der grundlegenden Schriften der
Kabbala, die Elohim
zitiert und in der es über den Ursprung der Welt heisst: "Lass da Licht sein"
(Berechit 1:3). Dieses göttliche Licht, auf das Kiefer sich da
bezieht, schuf unter anderen
Adam Kadmon, den mythischen ersten Menschen auf Erden.
So weit in
die Vergangenheit die Reminiszenzen in Kiefers Arbeit auch reichen, so
existieren darüber hinaus auch ganz konkrete ortsspezifische Analogien zur
Stadt Mailand. Dadurch, dass der Künstler den Bestandteilen seiner
Installation die Form von Türmen gegeben hat, stellt er auch einem
Zusammenhang her zur historischen Mailänder Stadtkrone mit ihren profanen
und religiösen Turmarchitekturen aus der Zeit der
Romanik, Gotik und
Renaissance bis hin zu den Hochhäuser der Moderne im Mailänder Zentrum wie
etwa dem erst kürzlich frisch sanierten
Pirelli-Tower. In diesem gedanklichen und materiellen Beziehungsgeflecht
erstrahlt dann auch Bicocca im Ganzen in neuem Glanz - als wieder
gewonnene urbane Fläche, als neue alte Stadt in der Stadt. Ulrich
Clewing
Die Ausstellung im Hangar Bicocca, Viale Sarca 336,
ist noch bis zum 7. Dezember zu sehen. Öffnungszeiten: täglich 12-19 Uhr.
Ein Katalog ist bei Édition du Regard, Paris, erschienen.
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