Wer etwas kann, der unterrichtet es Vik Muniz und
seine Kunstschule für die Kinder der Favelas
Der
brasilianische Künstler Vik Muniz ist seit 2006 der Leiter des Centro
Espacial in Rio de Janeiro – einer Kunstschule, an der er Aufsehen
erregende Projekte mit Kinder aus den städtischen Slums realisiert hat.
Die Arbeit "Pictures of Junk" zum Beispiel: Installationen aus
Wohlstandsmüll, so groß wie Fußballfelder, die aus der Vogelperspektive
betrachtet, berühmten Gemälden der Alten Meisten ähneln. Morgan
Falconer hat Muniz in seinem New Yorker Studio besucht und
herausgefunden, weshalb Lehrer nie aufhören, selbst zu lernen.
 Vik
Muniz, Marlene Dietrich, 2004 Sammlung
Deutsche Bank © Vik Muniz/VG Bild
– Kunst, Bonn 2008
Viele
Künstler haben bei Ebbe im Geldbeutel schon mal die eine oder andere
Stunde als Lehrer in einem Klassenzimmer oder in einem Hörsaal abreißen
müssen – während sie im Studio noch nach ihrem eigenen Weg in der Kunst
suchten. Vik Muniz
macht da keine Ausnahme. Anfang der Achtziger kam er aus seinem Heimatland
Brasilien nach New York, heute ist er bekannt für seine ironische
Aneignung der Appropriation Art. Er verarbeitet flüchtige und sehr
exzentrische Materialien wie Schokoladensoße, Fäden und Müll, um das
bestehende Bildgedächtnis der Kunstwelt noch einmal neu zu schaffen.
Danach hält er das Ergebnis seiner Arbeit in Fotografien fest.
Die
Deutsche
Bank hat zwei bemerkenswerte Beispiele in ihrer Sammlung: Bei
Sunflowers (after Van
Gogh) aus dem Jahre 2002 lässt Muniz das berühmte Werk des
holländischen Malers aus den Blättern eines Farbmusterbogens neu
entstehen. In Marlene Dietrich
(2004) verwendet er dagegen ausschließlich Diamanten, um das Gesicht der
Filmdiva zu erschaffen. Muniz Fotografien haben auf den Kunstkenner eine
ähnliche Wirkung wie eine hochkonzentrierte Droge: Sie wirken schnell und
unmittelbar – und sie haben dem Endvierziger beträchtlichen Erfolg
beschert. So kann er es sich mittlerweile leisten, sein Studio in Brooklyn
als eine Wunderkammer der Renaissance auszustaffieren. Ölgemälde von Courbet
und Tiepolo
zieren die Wände, einen Bärenfell ist auf dem Boden ausgebreitet, das
Regal hinter seinem Schreibtisch quillt über von alten Fotos und
präparierten Insekten. Doch trotz seines Erfolgs ist es vor allem eines,
was den Künstler wirklich beschäftig: der Zusammenhang von Kunst und
Bildung. "Es gibt ein geflügeltes Wort im Englischen", sagt er. "'Wer
etwas kann, der tut es. Wer etwas nicht kann, der unterrichtet es.' Ich
denke, das ist falsch. Das Unterrichten zwingt den Künstler nicht nur,
seine Ideen in eine Form zu bringen, so dass er sie an andere weitergeben
kann; die Studenten bringen oft auch eine Energie mit, die man in der
Kunstwelt oft vergeblich sucht."
 Vik
Muniz Foto: Barney Kulok Courtesy
of Sikkema Jenkins & Co.
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Vik Muniz, Sunflowers, after Van Gogh, 2002 Sammlung
Deutsche Bank © Vik Muniz/VG
Bild – Kunst, Bonn 2008
Ans
Unterrichten hat er in letzter Zeit häufig gedacht. 2006 steckte er
einiges an Geld und Energie in die Gründung des Centro
Espacial Vik Muniz – eines Bildungsinstituts in Rio de Janeiro für
Kinder, die in den Favelas leben. "Es sind typische raue, harte
Favela-Kinder, wenn sie zum ersten Mal bei uns auftauchen", sagt er. Das
Centro Especial Vik Muniz ist in eine andere Schule, die Galpão
Aplauso, eingegliedert. Sie bietet Schauspiel- und Theater-Workshops
an und wird jedes Jahr von 400 Schülern aus den 200 Favelas der Stadt
besucht. Dieses Engagement der Schüler sei schon allein ein Erfolg, meint
Muniz, da der lange Arm und die unterschiedlichen Interessen der
Drogenkartelle Feindschaften zwischen den verschiedenen Favelas entstehen
lassen.
Muniz ist sehr glücklich über die Wirkung seines Centro
Espacial. Er beschäftigt mehrere ehemalige Schüler als Mitarbeiter in
seinem Studio. Kürzlich haben sie zusammen an der Serie Pictures
of Junk gearbeitet, mit der Muniz Gemälde Alter Meister noch einmal
neu schafft – dieses Mal allerdings in enormer Vergrößerung und mit
Industrieabfällen statt Ölfarbe. Das Studio des Künstlers hat die Ausmaße
eines Basketballfelds. Um die Bilderserie zu schaffen, kauerte Muniz auf
einem Gerüst knapp unter der Decke und dirigierte die Arbeiten am Boden
mit Hilfe eines Laser-Pointers. So dient jetzt ein Haufen industriell
gefertigter Netze, um das Maul des monströsen Giganten in Saturn
devouring one of his sons (after Goya)
abzubilden. In Narcissus (after Caravaggio)
verleihen alte Eimer, Kühlschränke, Räder und rostige Ketten dem "Gemälde"
Textur.
 Vik
Muniz, Narcissus, after Caravaggio, aus
"Pictures of Junk", 2006, Courtesy
of Vik Muniz and Sikkema Jenkins & Co.
Muniz
stammt zwar aus Sao Paulo, doch haben seine über die Jahre angesammelten
Erfahrungen in Rio den entscheidenden Ausschlag gegeben, sein
Bildungszentrum genau dort zu gründen. "Rio ist wie San Tropez –
allerdings mit dem Speckgürtel von Mogadishu drum herum", erklärt er. "Als
Brasilianer glaube ich, dass ich auf beiden Seiten des Grabens arbeiten
muss, um hier zu leben und die Kultur der Stadt wirklich genießen zu
können." Manche mögen bezweifeln, dass die Kinder der Favelas ausgerechnet
ein Kunstzentrum brauchen. Doch Muniz sagt, er wisse durchaus über die
Bedürfnisse seiner Schüler Bescheid. "Ihre Realität ist vollkommen anders
als die eines gewöhnlichen Kunststudenten. Sie wollen eine Ausbildung,
einen Job, und es ist ihnen sehr wichtig etwas in der Hand zu haben, das
sie einem Arbeitgeber zeigen können." Deshalb hat er einen Kurs
mitentwickelt, der von den Ideen des Bauhaus
beeinflusst ist und die Schüler letztlich in die Lage versetzt, an einem
Projekt, einer Ausstellung oder einem Katalog mitzuarbeiten.
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