Man Ray, Portrait of Berenice Abbott, 1925. Collection Hank O’Neal, New York. © Man Ray Trust / ADAGP Paris 2011
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Berenice Abbott, Jean Cocteau with Gun,1926. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Rockefeller Center, 1932. Deutsche Bank Collection. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Wall Street Area, ca. 1936. Deutsche Bank Collection. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Theoline, Pier 11, East River, N.Y., 1936. Deutsche Bank Collection. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Nightview, New York City, 1932. © Berenice Abbott / Commerce Graphics
Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Fish Markets, South Street, 1936. Deutsche Bank Collection. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Penn Station, Interior, Manhattan, 1935. The New York Public Library
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Berenice Abbott, Photomontage, New York City, 1932. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Happy’s Refreshment Stand, Daytona Beach, Florida, 1954. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, Bouncing Ball Time Exposure, 1958-1961. © Berenice Abbott / Commerce Graphics Ltd, Inc.
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Berenice Abbott, New York City, November 1979. Photo Hank O'Neal
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“Die Welt mag keine unabhängigen Frauen.
Warum das so ist, weiß ich nicht, aber es ist mir auch egal.“ Diese
lakonische Bilanz zieht Berenice
Abbott
mit 92 Jahren. Kurz vor ihrem Tod 1991 kann die Fotografin auf eine
sechs Dekaden umspannende Karriere zurückblicken – ihren Erfolg als
Porträtfotografin in Paris, das Mammutprojekt Changing
New York, ihre Pionierarbeit als Wissenschaftsfotografin,
eine große Retrospektive, die ihr das MoMA
widmet. Abbotts künstlerische Laufbahn lässt sich jetzt erneut im Jeu de
Paume nachverfolgen. Das Ausstellungshaus in Paris widmet ihr
eine großartige Werkschau, die danach auch in der Art Gallery of Ontario,
Toronto, zu sehen ist. Unter den mehr als 120 Vintage Prints sind nicht
nur ihre berühmten Architekturaufnahmen und Straßenszenen, sondern auch
frühe Porträts und nur wenig bekannte Fotografien, die im Sommer 1954
während einer Reise auf der Route 1
von Florida bis Maine entstehen – eine faszinierende Momentaufnahme des
American way of life in einer von großem Optimismus geprägten Ära.
Ausgewählte Arbeiten von Abbott sind demnächst auch in Hamburg zu
sehen: In der Ausstellung New
York Photography 1890-1950 im Bucerius Kunst Forum
dürfen ihre ikonischen Bilder der Metropole natürlich nicht fehlen.
Ebenso
mutig wie beharrlich geht Abbott ihren Weg. Gesellschaftliche
Konventionen sind der Frau aus Springfield, Ohio, die viele Jahre mit
ihrer Freundin, der Kunstkritikerin Elizabeth
McCausland
zusammen leben wird, schon immer gleichgültig. „Am Tag nach meinem
Abschluss an der Lincoln High School ging ich zum Friseur und ließ mir
den langen, dicken Zopf abschneiden. Mein Bubikopf erregte Aufsehen auf
dem Campus. Ein paar Studenten aus New York hielten mich sofort für
’sophisticated’. Wir wurden Freunde und für mich begann ein neues
Leben.“ Und das führt sie aus der Provinz mitten hinein ins Zentrum der
amerikanischen Avantgarde – nach New York, die „Heimat der
Entwurzelten“, so ihr Freund, der Schriftsteller Malcolm
Cowley.
Hier schreibt sie zunächst, versucht sich dann als Bildhauerin. Sie
gehört zur Bohème von Greenwich Village, teilt sich ein Apartment mit
der Autorin Djuna
Barnes, bringt Man
Ray und Marcel
Duchamp das Tanzen bei. Zu ihren Freundinnen zählt auch die exzentrische Elsa
von Freytag-Loringhoven, als lebendes Kunstwerk trägt sie Tee-Eier als Ohrringe und
Tomatendosen als BH. Die „Dada-Baroness“ rät Abbott, nach Paris zu gehen. Die Hauptstadt
der Moderne böte ihr eine noch inspirierendere Umgebung als New York.
Im Frühjahr
1921 besteigt die 22-Jährige das Schiff nach Frankreich. In Paris
findet sie per Zufall zu ihrem künstlerischen Medium: Sie trifft Man
Ray, inzwischen ebenfalls umgesiedelt, auf der Straße. Für sein
Porträtstudio suche er einen Assistenten für die Dunkelkammer, „der
nichts von Fotografie versteht“. Abbott übernimmt den Job. Als Man Ray
ihr Talent erkennt, darf sie in seinem Atelier eigene Aufnahmen machen.
Wie ihr Mentor arbeitet sie zunächst als Porträtistin. Dank des
wachsenden Erfolgs kann sie bald ein eigenes Studio eröffnen, wo sie
Künstler und Literaten wie Jean
Cocteau
oder James Joyce fotografiert. Dabei entwickelt Abbott ihren eigenen
Stil. Setzt Man Ray oft auf experimentelle Techniken wie Verfremdungen
oder Doppelbelichtungen, platziert sie die Modelle vor schlichten
Hintergründen, setzt auf Natürlichkeit und Spontaneität. Die weich
gezeichneten, an impressionistische Gemälde angelehnten Aufnahmen der
Piktoralisten, die damals die Ästhetik der Fotografie dominieren, lehnt
sie vehement ab.
Die gewisse Nüchternheit, die sie so schätzt,
entdeckt Abbott dagegen in den Aufnahmen von Eugène Atget. Kurz vor
seinem Tod lernt sie den Fotografen kennen, der unermüdlich die
Straßen, Gebäude und Schaufenster der französischen Hauptstadt
fotografiert hat. Als er stirbt, erwirbt sie trotz beschränkter
finanzieller Möglichkeiten einen Teil seines Nachlasses. Auf der Suche
nach einem Verleger für ein Buch über ihr Vorbild kehrt sie 1929 nach
New York zurück. Nach acht Jahren Abwesenheit kommt sie in eine andere
Stadt, eine Metropole, die gerade ihren zweiten Wolkenkratzer-Boom
erlebt. „In New York herrschen Reichtum und Elend, stehen zahllose
Backsteinhäuschen neben den Marmorpalästen der Banken und Unternehmen“,
schreibt Bernard Fay in seinem damals erschienen Buche The Amrican
Experiment. Für den französischen Historiker ist New York „die einzige
Stadt, die sich die Moderne leisten kann“. Abbott erkennt sofort, dass
diese sich so rasant verwandelnde Metropole mit ihrem Reichtum an
Kontrasten weitaus aufregendere, zeitgemäßere Motive liefert als jede
Porträtsitzung in einem Studio und beschließt zurückzukehren.
„Der
wahrhaft moderne Künstler betrachtet die Großstadt als eine
Verkörperung abstrakten Lebens“, konstatiert Piet Mondrian 1919. „Sie
ist ihm näher als die Natur; sie wird ihm eher ein Gefühl der Schönheit
vermitteln. Denn in der Großstadt erscheint die Natur schon geordnet
und durch den menschlichen Geist reguliert. Die Proportionen von Linien
und Flächen bedeuten ihm mehr als die Launen der Natur. In der
Metropole drückt sich die Schönheit mathematisch aus.“ Doch nicht die
Malerei erscheint als das geeignete Medium, um die Dynamik der großen
Städte festzuhalten. Fotografie und Film, die beiden jungen,
„mechanischen“ Künste, besitzen eine weitaus stärkere Affinität zu den
Phänomenen des Maschinenzeitalters, dessen gesellschaftliche
Umwälzungen sich vor allem im urbanen Raum manifestieren. Das Leben auf
den Straßen, in die Höhe strebende Wolkenkratzer, Autos, Schaufenster,
Reklame – all das steht für Bewegung und Aufbruch. Nicht nur das
Alltags- und Arbeitsleben, auch die Künste werden mechanisiert. „Die
Fotografie passt zur Geschwindigkeit unserer Zeit“, so Abbott. “Als
realistisches Medium ist sie gerade für ein realistisches und
wissenschaftliches Zeitalter geeignet.“
Abbotts neue Bilder sind
eine Synthese aus Atgets Paris-Typologie, der Bildsprache der Moderne
und einer straighten Ästhetik, gepaart mit einer „unsentimentalen
Liebe“ zu ihrer Heimatstadt. Blickte Atget mit einem Anflug von
Nostalgie auf das „alte Paris“, geht es Abbott vielmehr um die
Gegenwart, um, wie sie es formuliert, „Realismus – das wirkliche Leben
– das Jetzt“. Sie entwickelt die Idee zu einem Werkkomplex, der sich
nur mit August Sanders Bildatlas Menschen des 20. Jahrhunderts
vergleichen lässt. Versucht Sander das Spektrum der verschiedenen
Gesellschafts- und Berufsgruppen der Weimarer Republik zu
dokumentieren, geht es Abbott mit Changing New York um das Porträt
einer Metropole im Umbruch. Lange sucht sie nach finanzieller
Unterstützung für ihre Pläne, bis es ihr das Federal Art Project (FAP),
ein staatliches Förderprogramm für bildende Künstler, ermöglicht, sich
von 1935 bis 1939 ihrem ehrgeizigen Projekt zu widmen.
Um ihre
Vorstellung von einer realitätsgetreuen Fotografie umsetzen zu können,
verabschiedet sich Abbott von der Kleinbildkamera, mit der ihre ersten
Bilder der Stadt entstehen. Etwa Building New York (1929). Diese
Aufnahme eines im Bau befindlichen Wolkenkratzers zitiert mit ihren
unterschiedlich beleuchteten und strukturierten geometrischen Flächen
die Bildsprache des Kubismus. Doch die Qualität der Abzüge vom
Kleinbild-Negativ genügt ihren Ansprüchen nicht. Deshalb beschließt
sie, wie Atget mit einer 18 x 24 cm Großformatkamera zu fotografieren.
Das bedeutet, dass sie jetzt mit Stativ und schwarzem Tuch arbeiten
muss – und einem Equipment, das rund 30 Kilo wiegt. Die Flexibilität
der Kleinbildkamera opfert sie dem wesentlich größeren Detailreichtum
und der immensen Tiefenschärfe, die die großen Negative ermöglichen.
Diese Entscheidung verändert auch ihre Motivwahl: Die Darstellung der
Geschwindigkeit des American way of life weicht statischeren Bildern,
in denen es eher um die Architektur als um die Menschen geht. Mit ihrem
„kunstlosen“ Stil will sie sich ganz bewusst von modischer
Künstlichkeit absetzen.
Die von Mondrian propagierte
„mathematische Schönheit“ kennzeichnet auch Abbotts Aufnahmen, mit
denen sie in der Sammlung Deutsche Bank vertreten ist, so etwa Theoline, Pier 11, East River, N.Y. (1936) oder Rockefeller Center
(1932). Wie ein gigantischer, scharf konturierter Kristall ragt der Art
Déco-Hochhauskomplex in die Höhe – ein perfektes Sinnbild für die kühle
Ästhetik des technischen Zeitalters. Die am Pier 11 entstandene
Fotografie des Schoners Theoline, hinter dem die Skyline von
Manhattan aufragt, ist eine meisterhafte Komposition. Das Gewirr von
Schrägen und Vertikalen – Schiffsmasten, Takelage, die Gebäude im
Hintergrund – erhält durch die Fläche des Decks am unteren Bildrand
seine Basis. In Verbindung mit der Tiefenschärfe, die sich von dem
Segeltuch im Vordergrund bis zu den Wolkenkratzern am Ufer erstreckt,
sorgt diese Basis dafür, dass das Bild nicht auseinanderfällt. Das
Motiv stellt für Abbott eine echte Herausforderung dar: „Andauernd
hebte und senkte sich das Boot und ich musste mit dieser enormen
Schärfentiefe zurechtkommen. Ich wollte, dass all diese Linien scharf
sind. Wenn das Boot oben war, waren die Gebäude unten, so musste ich
alles sehr sorgfältig und langsam arrangieren.“
Auch eine
ihrer spektakulärsten Fotografien der Stadt erfordert minutiöse
Vorbereitungen. New York at Night soll die nächtliche Metropole aus
der Vogelperspektive zeigen, erhellt vom Licht der zahllosen Büros. Die
meisten Angestellten arbeiten allerdings nur bis fünf Uhr, danach
werden die Lampen ausgeschaltet. Um dieses Motiv ihren Vorstellungen
gemäß realisieren zu können, muss Abbott also den Tag des Jahres
auswählen, an dem es am frühesten dunkel wird. Am 20. Dezember 1934 ist
es so weit: Sie hatte ein Gebäude gefunden, das den richtigen Blick auf
Manhattan bietet. Es war ihr gelungen, den Vermieter zu überreden, sie
aus einem Fenster hinaus fotografieren zu lassen. Denn nur ein
Innenraum bietet ein erschütterungsfreies Ambiente, in dem sie ihr
Negativ 15 Minuten belichten kann, ohne dass die Aufnahme verwackelt.
Glücklicherweise ist das Wetter gut und ihr gelingt ein ikonisches
Bild.
Auf Grund politischen Drucks läuft das Federal Art
Project 1939 langsam aus und kann Abbott nicht mehr unterstützen.
Obwohl Changing New York für sie längst noch nicht abgeschlossen ist,
muss sie sich einem neuen Thema zuwenden. Sie beginnt mit Aufnahmen von
wissenschaftlichen Experimenten. Ein konsequenter Schritt, ist die
Fotografie für Abbott doch ein „Nachkomme von Wissenschaft und Kunst“.
Auch diese Bilder zeichnen sich durch ihre „mathematische Schönheit“
aus. Die Wissenschaftsfotografie kulminiert in den Aufnahmen, die 1958
für das Physical Science Study Committee am Massachusetts Institute of
Technology (MIT) entstehen und für Physiklehrbücher bestimmt sind. Sie
visualisieren Phänomene wie Schwerkraft, kinetische Energie und
Elektrizität. Die Aufnahmen von Lichtwellen, die von einer dreieckigen
Glasplatte gebrochen werden, oder der Bewegung einer Kugel an einem
Pendel vor einem schwarzen Hintergrund sind zugleich präzise
Dokumentationen und ungemein elegante abstrakte Kompositionen, deren
Ästhetik an Man Rays experimentelle Fotografie aus den 1920ern
anknüpft. Dabei ging es Abbott allerdings nicht darum, „Kunst“ zu
produzieren, sondern Wissenschaft verständlich zu machen.
Ob
sie den Wandel New Yorks festhält oder physikalische Phänomene, Abbotts
Arbeiten dokumentieren die ganz selbstverständlich wirkende visuelle
Kraft gekonnter Straight Photography. Sie selbst hat das bewährt
lakonisch auf den Punkt gebracht: „Die Leute behaupten, sie müssten
ihre Emotionen ausdrücken. Das hängt mir zum Halse raus. Fotografie
bringt dir nicht bei, wie du deine Gefühle ausdrückst, sie bringt dir
bei zu Sehen.“
Berenice Abbott
21.02. – 29.04. 2012
Jeu de Paume, Paris
23.05. – 19.08. 2012
Art Gallery of Ontario, Toronto
New York Photography 1890-1950 – Von Stieglitz bis Man Ray
17. Mai 2012 – 02. September 2012
Bucerius Kunst Forum, Hamburg
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