Gabriel Orozco
Die Poesie der Alltagsobjekte und ungewollten Dinge
Gabriel Orozco gilt als einer der
bedeutendsten Künstler der Gegenwart. Seine Installationen, Skulpturen,
Fotografien und Gemälde widmen sich bevorzugt dem Ephemeren –
Alltagsgegenständen, Situationen und Erfahrungen. Bei Orozco kann
sich alles in Kunst verwandeln: Joghurtbecher, Automobile, sogar ein
ganzes Walskelett. Anlässlich seiner Auftragsarbeit "Asterisms" für das
Deutsche Guggenheim stellt Ulrich Clewing das Werk des Künstlernomaden
vor, der wahlweise in Mexiko, Frankreich und den USA lebt.
Gabriel Orozco, Mobile Matrix, 2006. Graphite on gray whale skeleton. Installation view at Biblioteca Vasconcelos, Mexico City, 2006. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Gabriel Orozco, Mobile Matrix, 2006. Graphite on gray whale skeleton. Installation view at Biblioteca Vasconcelos, Mexico City, 2006. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Gabriel Orozco, La DS, 1993. Modified Citroën DS. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Gabriel Orozco, My Hands Are My Heart, 1991. Two silver dye bleach prints. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Gabriel Orozco, My Hands Are My Heart, 1991. Two silver dye bleach prints. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Gabriel Orozco, Black Kites, 1997. Graphite on skull. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Gabriel Orozco, Black Kites, 1997. Graphite on skull. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Gabriel Orozco, Lintels, 2001. Dryer lint. Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, New York
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Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Auto. Von der Seite betrachtet war
noch alles in Ordnung. Aber von vorne sah es seltsam geschrumpft aus.
Tatsächlich fehlten dem Wagen – ein Citroën DS, Baujahr 1960 – entscheidende 64 Zentimeter. Gabriel Orozco
hatte das Gefährt mit einem Assistenten einen Monat lang in einer
KFZ-Werkstatt traktiert, bevor er es im Dezember 1993 in die Pariser Galerie Chantal Crousel
verfrachtete. Zuerst entfernten die beiden Sitze und Motor. Dann
verpassten sie der Karosserie der Länge nach zwei saubere Schnitte,
hoben den Mittelteil heraus und setzten dann die zwei verbliebenen
äußeren Hälften zusammen. Zum Schluss kamen die Sitze wieder rein –
einer vorne, einer hinten.
Die Implikationen waren nicht zu unterschätzen, nicht nur, weil Auto im
Französischen ein Substantiv weiblichen Geschlechts ist und die DS
ausgesprochen wie „Déesse“ – die Göttin – klang. Bei seiner
Präsentation im Jahr 1955 umjubeltes Paradebeispiel avantgardistischer
französischer Technik, war die futuristische Nationalikone nach Orozcos
Modifizierung noch immer stromlinienförmig, ja fast noch schnittiger
als zuvor. Aber andererseits war es eben auch ein lächerlicher Haufen
Blech. „Entschwundene Träume eines ungebändigten Technikzeitalters,
Fußnoten eines visionären Kopfs am Ende eines verschwimmenden
Jahrtausends“ kommentierte damals der Kunstkritiker Francesco
Bonami in der Zeitschrift Flash Art.
Als Gabriel Orozco La DS
(1993) in Paris zeigte, war er 31 Jahre alt und galt als
vielversprechender junger Künstler. Heute, knapp zwanzig Jahre später,
ist er ein Star der internationalen Szene, geehrt mit Ausstellungen in
den renommiertesten Museen und vertreten in Sammlungen weltweit.
Dreimal nahm er bisher an der Biennale von Venedig teil, zweimal an der documenta in Kassel. Zuletzt waren Arbeiten von ihm im Museum of Modern Art in New York (2009), dem Pariser Centre Pompidou (2010), dem Kunstmuseum Basel (2010) und der Tate Modern in London (2011) zu sehen.
Die mittlerweile vom französischen Staat angekaufte Autoskulptur wurde
nicht nur zu einem seiner bekanntesten Werke, sie ist auch beispielhaft
für die Arbeitsweise, mit welcher der 1962 in Mexiko als Sohn eines
Malers und einer Pianistin geborene Künstler die Bildhauerei der
vergangenen Jahrzehnte beeinflusst hat wie kaum ein anderer. Für Orozco
ist die ganze Welt Material – es gibt praktisch nichts, was ihm nicht
geeignet scheint, Eingang in sein äußerst vielseitiges Gesamtwerk zu
finden. In den meisten Fällen sind es alltägliche Gegenstände, die zum
Ausgangspunkt für skulpturale Eingriffe werden. Oft handelt es sich
dabei um Weggeworfenes, Ungewolltes, nicht mehr Gebrauchtes, um das,
was andere als Müll bezeichnen würden. Für Orozco gibt es keine
Grenzen, wenn es darum geht zu bestimmen, was als künstlerischer
Grundstoff in Frage kommt und was nicht. Und er lässt sich dabei auch
nicht auf eine bestimmte Gattung festlegen. Er dreht Videos, führt
Performances auf und fotografiert dann die Reste, er baut ein Riesenrad
auf, das zur Hälfte im Boden versinkt, wie zur Expo 2000 in Hannover mit Half-Submerged Terris Wheel (1997), oder lässt eine Aufzugskabine, Elevator (1997), ins Museum of Contemporary Art in Chicago transportieren. Er hat, lange vor Damien Hirst, für Black Kites (1997) einen Totenschädel genommen und mit einem Bleistift ein Rautenmuster darauf aufgebracht. Er hat für My Hands Are My Heart
(1991) ein Stück Tonerde vor seine Brust gehalten und als er es
losließ, sahen die Abdrücke seiner Hände aus wie ein Herzmuskel. Fotos,
Aktionen, Readymades – all dies gehört zu seinem Schaffen. Und manchmal
macht er auch fast nichts. Ein Jahr nach La DS, bei einer Ausstellung in der Marian Goodman Gallery in New York, konfrontierte er die Besucher mit der Installation Yogurt Caps
(1994), einem vollständig leeren Raum, in dem er lediglich vier Deckel
von Joghurtbechern verteilt hatte. Nicht jeder war damals glücklich
über diese extrem minimalistische Präsentation. Jedoch hatte es
schon lange keine Galerieausstellung mehr gegeben, in der mehr über das
Verhältnis von physischer Präsenz und Imagination diskutiert wurde.
Ein andermal erhielt Orozco die Einladung zu einer Schau in die Douglas Hyde Gallery des Trinity College in Dublin.
Auch dazu reiste er praktisch ohne Gepäck an, zumindest hatte er keine
Kunst dabei. Er hielt sich an das, was er vor Ort vorfand: einen alten
Besen, einen Kaffeebecher, eine gebrauchte Malerrolle, ein Weinglas und
eine leere Glühbirnenschachtel. Und es geschah das Unvorhersehbare: Mit
einem einfachen, aber sehr wirkungsvollen Kunstgriff verlieh er in The Weight of the Sun
(2003) den Dingen eine Poesie, die zu Anfang nur in seiner Vorstellung
existierte, später aber umso sichtbarer wurde. Er ging hin und verband
Besen, Becher, Glas, Malerrolle und Schachtel mit dünnen Schnüren erst
an der Decke, dann untereinander. Als er damit fertig war, schienen die
Gegenstände wie von Geisterhand im Raum zu schweben. Bewegte man den
einen, bewegten sich auch alle anderen: ein Ballett banaler
Gebrauchsartikel, die im selben Augenblick ihre Banalität gegen ein
bezauberndes neues Dasein eingetauscht hatten.
Die Sprache, die Orozco bei solchen Installationen spricht, ist das
universelle Vokabular eines Globetrotters. In allem, dem er begegnet,
erkennt er eine merkwürdige, unterschwellig wirkende poetische Energie.
Er hat bereits in Berlin, im costaricanischen Regenwald und in
Neu-Dehli gearbeitet, privat lebt er mit seiner Frau Maria Gutierrez
und ihrem gemeinsamen Sohn Simón in Mexiko City, New York und Paris.
Oder wie er es ausdrückt: in „drei unterschiedlichen Kulturen,
Sprachen, Mentalitäten, Denkweisen“. In seiner New Yorker Galerie
hängte er Objekte auf, die aussahen wie Textilien und schon beim
leisesten Windhauch in Bewegung gerieten. Die Installation Lintels
(2001) bestand aus Rückständen, die der Künstler in Wäschetrocknern
gefunden hatte und denen er nun, indem er sie an den Galeriewänden
anbrachte, mal wieder den entscheidenden Twist gegeben hatte. Der
Kunstkritiker des New Yorker,
Peter Schjeldahl, urteilte prägnant, wenn man sich einmal dazu
durchgerungen hätte, in den Flusen nicht mehr nur Abfall zu sehen, dann
wecke „ihre Fragilität überraschend zarte Regungen.“
Orozcos Vorgehen ist höchst präzise, doch ebenso oft wählt er die Improvisation. Bei Black Kites,
dem schwarz-weiß gemusterten Totenkopf, hat er den komplizierten
Linienverlauf akkurat in Vorzeichnungen festgehalten. Und dann – bei
der Aktion Penske Work Project
(1998) – lief es wieder genau anders herum. Da fuhr er mit einem
geliehenen Laster der Firma Penske vier Wochen durch Manhattan,
sammelte am Straßenrand Müll zusammen und formte daraus direkt auf der
Ladefläche seine Kunstobjekte. Der totale Zufall als
Gestaltungsprinzip. „Es ist eine Art Spiel“, gab Orozco, nachzulesen in
dem bei Hatje Cantz erschienenen Katalog
zur Ausstellung im Kunstmuseum Basel, danach zu Protokoll. „Ich fahre
den Laster in der Stadt herum, ich darf nur benutzen, was ich finde und
mir muss an Ort und Stelle etwas einfallen. Ich arbeitete also vor mich
hin, manchmal 30 Minuten, manchmal zwei Stunden, bis ich eine Lösung
hatte, die mir gefiel. Dann machte ich ein Polaroidfoto als
Gedächtnisstütze, verstaute das Ding im Laster und fuhr zur nächsten
Station.“
Beide Male, bei Black Kites wie bei Penske Work Project,
passiert im Verlauf der an sich grundverschiedenen Prozesse ein und
dasselbe: ein bereits vorhandener Gegenstand wird von einem einfachen
in einen komplexen Sinnzusammenhang transformiert. Womöglich ist
deshalb eine Bibliothek nicht der schlechteste Ort für Orozcos Kunst.
Jedenfalls hängt dort, in der 2006 eröffneten Biblioteca Vasconcelos
in Mexiko City, eines seiner spektakulärsten Werke: das Skelett eines
Grauwales, das der Künstler ähnlich wie bei seinem Totenschädel mit
einem rhythmisch organisierten Muster versehen ließ. 6.000
Bleistiftminen verbrauchten die 20 Assistenten, die die feinen
Graphitlinien auf das riesige inzwischen Mobile Matrix betitelte Knochengerüst aufbrachten. Das Walskelett fand Orozco am Strand von Isla Arena
in Baja California, einem Naturschutzgebiet, in dem die Natur leider
nicht nur geschützt wird. Denn von der Meeresströmung angeschwemmt
werden verendete Wale, aber auch Zivilisationsmüll jeder Art. Für
Orozco, wie man beim Penske Work Project gesehen hat, ein perfektes Reservoir an Arbeitsmaterial.
In Vorbereitung der Ausstellung Asterisms
im Deutsche Guggenheim ist Gabriel Orozco zur Isla Arena zurückgekehrt,
um dort am Strand erneut Gegenstände aufzulesen. Mit dieser Reise
wiederholt er die Aktion vom Pier 40-Freizeitpark in Manhattan, New
York, wo er den Kunstrasen nach Dingen absuchte, die sich im Lauf der
Saison ansammelten: Flaschenverschlüsse, Zigarettenstummel, Kaugummis
in allen Farben. Diese werden zusammen mit Fotoarbeiten und einem Video
in der Ausstellungshalle Unter den Linden präsentiert. Doch zuvor wird
er sie noch kleinen Transformationen unterziehen, damit sie vom
fragilen Zustand von Natur und Zivilisation am Anfang des 21.
Jahrtausends künden.
Gabriel Orozco: Asterisms 06.07 - 21.10.2012 Deutsche Guggenheim, Berlin
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