„Es ist interessant, unsicher zu sein“ Ein Gespräch mit Lorna Simpson
Sie
war die erste Afroamerikanerin, die auf der Biennale in Venedig
ausstellte und eine der wenigen, die jemals auf der documenta zu sehen
waren – und das gleich zweimal, 1987 und 2002. In ihren Fotoarbeiten,
Installationen und Filmen untersucht Lorna Simpson, wie
unterschwelliger Sexismus und Rassismus den Blick auf den Anderen
bestimmen, wie wir miteinander kommunizieren und umgehen. Cheryl Kaplan
hat die Künstlerin in New York zum Interview getroffen.
Portrait of Lorna Simpson,The Vanderbilt Studio. Courtesy of Cheryl Kaplan. © Cheryl Kaplan, 2012. All rights reserved
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Lorna Simpson, You're Fine, 1988. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Jet Black, 2012. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Mixed Grey, 2012. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Call Waiting, 1997. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, The Institute, 2007. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Corridor (Day II), 2003. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Waterbearer, 1986. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Head B, 2008. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Ebony 2, 2010. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, Easy to Remember, 2001. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Lorna Simpson, InteriorGroup 5, 2009. Courtesy of the artist and Salon 94.© Lorna Simpson, 2012.All rights reserved.
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Es war Henri Cartier-Bresson,
der die Fotografie durch das Erfassen des „entscheidenden Moments“
definierte – der Augenblick, in dem der Fotograf mit dem visuellen
Geschehen vor ihm verschmilzt. Bei Lorna Simpson
ist es andersherum: Sie erlaubt es der Fotografie, sich wieder zu
zerfasern. Zumindest ein wenig. Die 1960 geborene afroamerikanische
Künstlerin begann ihre fotografische Laufbahn in den 1980er Jahren.
Anfangs widmete sie sich der Straßenfotografie,
doch schon bald wandte sie sich der Arbeit mit zerschnittenen und
seriellen Bildern oder gefundenem Material wie Pin-ups oder
Magazinbildern zu. Häufig basieren ihre Fotoarbeiten auf Studioporträts
von schwarzen Frauen, die in alltäglichen, „typisch weiblichen“ Posen
festgehalten werden. Diese Bilder wirken auf den ersten Blick
eindeutig, doch durch die Ausschnitte und die Kombination mit
Textfragmenten, die Simpson in ihre Werke integriert, wird eben diese
Eindeutigkeit radikal unterminiert: Simpson legt den latenten Rassismus
und Sexismus frei, der die amerikanische Kultur noch immer prägt. Mit
dieser Praxis befindet sie sich in Gesellschaft von politisch
engagierten afroamerikanischen Künstlern wie Carrie Mae Weems, Isaac
Julien und Glenn Ligon, die in den 1980ern begannen, Vorstellungen von
Rasse und Geschlecht zu hinterfragen. Dabei hat Simpson die
unterschiedlichsten Medien eingesetzt und neben der Fotografie und
Installation vor allem mit Film und Video gearbeitet.
Als ich
im Brooklyner Stadtteil Fort Greene ankomme, stehe ich vor einem wie
geleckt aussehendem Haus, das sich neben einem leeren Baugrundstück
befindet. Es ist der erste amerikanische Bau des Londoner Architekten
David Adjaye. In seinem Atelier unten im Haus telefoniert James
Casebere, Lorna Simpsons Ehemann. Ich steige die Treppe hoch, die über
mehrere Etagen mit zurückhaltend minimalistisch gestalteten Räumen
führt. Dann stehe ich vor Lorna Simpson. Es ist
Herbst in New York und sie ist gerade von einem kurzen Aufenthalt am
Strand von Long Island zurückgekehrt.
Cheryl Kaplan: Wie würden Sie die
Beziehung zwischen Bild, Text oder gesprochener Sprache in ihrer Arbeit
beschreiben? Ich denke dabei sowohl an Ihre frühen Fotografien als auch
an die neueren filmischen Arbeiten wie "Call Waiting" (1997) oder
"Institute" (2007).
Lorna Simpson: Die Beziehung zwischen Bild und Sprache
ist für Call Waiting und andere Arbeiten wirklich wichtig. Call Waiting
war ein Versuch, vorhandene Kommunikationsmechanismen zu nutzen. Eine
Serie von Gesprächen springt von einer Person zur anderen – manche
befinden sich im Bild, manche außerhalb. Dabei formt sich eine
Erzählung, die zwar auf einem Skript basiert, aber zugleich
improvisiert ist. An Sprache fasziniert mich die Art, wie wir sprechen
und Bedeutungen zuweisen. Und wie Sprache kulturell codiert ist. Für
The Institute benutzte ich Archivaufnahmen aus einer
Sprachtherapieklinik für geistig behinderte Kinder und Jugendliche aus
den 1950er Jahren. Schauspielerinnen stellten Mütter dar, die sich zwar
durch ihre Klassen- oder Alterszugehörigkeit, aber nicht durch ihre
Hautfarbe unterscheiden. Währenddessen führt eine Patientin mit dem
Namen Barbara ihre erlernten Sprachfähigkeiten vor, indem sie Fragen
wie „Wo lebst du?“ oder „Was sind deine Lieblingssachen?“ beantwortet.
Ihre Antworten enthüllen ein Leben in Isolation. Sie sind sehr
verstörend.
Als Regisseurin erzeugen Sie Unsicherheit; die eigentliche Geschichte läuft oft am Rand oder außerhalb des Bildes ab.
Für mich ist das Interessanteste an Filmen, wenn ich nicht weiß, wohin
sich die Sachen entwickeln. Wenn man den Zuschauer zwar emotional
einbindet, aber nicht manipuliert und eine gewisse Offenheit zulässt,
dann bringt man ihn mit einer Sprache in Berührung, die sich sehr von
der Filmsprache unterscheidet, die er gewohnt ist. Call Waiting war für
mich ein experimenteller Film Noir, der mit Dauer, mit Langsamkeit
arbeitete. Der thailändische Filmregisseur Apichatpong Weerasethakul
macht das ganz besonders gut. Er verbindet auf wunderbare Weise
flüchtige Schönheit mit persönlichen Fragen und mythischen Themen, zum
Beispiel in seinem Film Tropical Malady (2004). Bei diesem Film weiß
man nie, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln. Alles
funktioniert intuitiv. Ich mag dieses Hin- und Herschweifen im
Ungeplanten.
Warum halten Sie Teile der Geschichte vor dem Zuschauer zurück?
So begegnen und benehmen wir uns auch in Echtzeit. Mein Verfahren ahmt
die Unsicherheit und das Abdriften von Gesprächen nach. Das Leben ist
nicht so flüssig wie die Schuss-Gegenschuss-Montage.
Inwieweit sind ihre Filme bereits zuvor auf Storyboards skizziert?
Ich benutze Storyboards lediglich für die Kommunikation mit meinen
Mitarbeitern. Mit ihnen lege ich die Drehorte fest, die Zeit, die für
einzelne Einstellungen benötigt wird, die Position der Kamera. Trotzdem
wird ein paar Tage vor den Dreharbeiten immer noch improvisiert. Sobald
etwas im Storyboard fixiert ist, bin ich wieder offen für Zufälle. Ich
habe so auch schon mit Archivmaterial und Fotografien gearbeitet, so
habe ich etwa Bilder sechs Monate lang an der Wand hängen gehabt, um
auf neue Zusammenhänge zu stoßen. Meine frühen Arbeiten waren alles in
allem formalistischer. Das endete dann abrupt. In den 90er Jahren
begann ich, offener zu werden. Es ist interessant, sich unsicher zu
fühlen.
"The Institute" (2007) ist wunderschön gestaltet und
strukturiert. Doch durch die seltsamen Gegenüberstellungen hat die
Arbeit zugleich etwas Verstörendes: Auf der linken Seite sieht man
Filmausschnitte in vier kleinen Quadern, in der Mitte ein unscharfes
Bild und auf der rechten Seite einen Werbefilm mit einer jungen Frau
namens Barbara. Welche Rolle spielt diese relativ strenge, formale
Aufteilung in ihrer Arbeit? In den Quadern sieht man vier
Schauspielerinnen. Sie nicken andauernd erleichtert als Reaktion auf
eine Stimme außerhalb des Bildes, die ihnen erklärt, wie „ihren“
Kindern geholfen werden kann. Dadurch, dass sie in vier gleichen
Rechtecken des Bildes zu sehen sind, wird die Gleichartigkeit ihrer
Darstellung sichtbar. Bei dem Schwarz-Weiß-Film mit Barbara handelt es
sich dagegen um relativ rohes Archivmaterial. Sie ist tadellos
gekleidet: Mit ihrer Halskette und den frisch gemachten Haaren
erscheint sie wie das Exemplar einer Spezies, das begutachtet wird. Ich
nutze innerhalb des Projekts verschiedene ästhetische Ansätze, um
unterschiedliche Oberflächen zu erzeugen. Dieses
Kategorisieren taucht auch in anderen Zusammenhängen auf: Die kürzlich
von der Sammlung Deutsche Bank erworbenen Arbeiten haben Titel wie
"Mixed Grey" oder "Jet Black", was sich nach Haarfarben oder Farbstoffen
anhört.
Ja, das sind Collagen, die sich auf Anzeigen aus dem Ebony Magazine bezogen, einer Illustrierten, die 1945 für
Afroamerikaner gegründet wurde. Die Gesichter entnahm ich den Anzeigen
und die Sprache ist die Reklamesprache, so wie Mixed Grey oder Jet
Black.
Die Collagen aus der Sammlung Deutsche Bank sind fein,
fast fragil und wirken zugleich wie Trophäen. Die Haare sind sehr
aufwändig gestaltet und wirken wie künstliche Haarteile oder Hüte.
Sämtliche Arbeiten sind Dreiviertel-Porträts, die sich zum Betrachter
hin- oder ein wenig von ihm wegdrehen und mit dieser Spannung spielen –
zwischen einem ganz intimen Moment und dem öffentlichen Auftritt, bei
dem man im Scheinwerferlicht steht.
Mit dieser Idee habe ich
bereits in meinen Fotografien gearbeitet, auf denen man die Identität
des Porträtierten auch nicht genau erkennen kann. Durch die Tusche und
die Art und Weise wie die Haare übermalt sind, verwandeln sie sich in
eine Art Rorschach Test. Ich wollte keine Gesichter zeichnen. Das
Einfache, Simple dieser Zeichnungen passt auch zu meinen anderen
Arbeiten.
Manchmal setzten Sie Serialität und Wiederholung wie
ein chirurgisches Instrument, fast wissenschaftlich ein. Diese
Arbeitsweise verbindet Sie mit Ellen Gallagher.
Das stimmt,
Ellen benutzt dieselben Elemente, es geht eben darum, wie diese Dinge
wiederholt werden. Sie hat die Anzeigen für Perücken aus Magazinen wie
Ebony wieder und wieder verwendet. Auch wenn es sich um
unterschiedliche Anzeigen handelt, sehen sie meist alle gleich aus.
Wiederholungen sind ein Teil meiner Arbeit, insbesondere in meinen
frühen Werken, beim Herstellen von Editionen. Es geht dabei aber auch
darum, die Plastizität des Mediums anzuerkennen, die Idee der
Reproduktion in der Fotografie, bei der das gleiche Negativ immer
wieder unterschiedlich oder auf exakt dieselbe Weise verwendet wird.
Der Betrachter glaubt, es gebe Unterschiede, aber da sind keine. Es ist
immer dasselbe Bild, dasselbe Negativ.
Ihre Fotoserie "Untitled"
(2001) setzt sich aus einer Reihe von Porträts zusammen. Manche der
Porträtierten sind klar erkennbar, einige verschwinden fast in einem
nebulösen Schatten.
Das ist ein metaphorisches Verfahren, das
ich in meiner Arbeit immer wieder einsetze. Es gibt nur Schnipsel,
Bruchstücke von Klarheit. Beim Porträtieren kann man eine Beziehung zu
der Person im Bild haben oder auch nicht. Auch unsere eigenen
Erinnerungen sind ja manchmal klar und manchmal verschwommen.
Diese Unschärfe erscheint mir wie ein Bild – nicht nur für das visuelle
Fokussieren, sondern auch wie man Menschen gesellschaftlich sieht, sich
auf sie fokussiert. Fast scheint es, als würden Sie da an der
Schärfeneinstellung drehen. Das gilt auch für die übermalten Collagen
aus der Sammlung Deutsche Bank: Der Blick des Betrachters richtet sich
instinktiv auf das Gesicht des Modells, denn das ist scharf gezeichnet.
Dann ist man aber angezogen und auch abgelenkt von den Haaren: die sind
mal pink, Jet Blue oder Mixed Grey. Die Haare werden zu Ködern, die
sich als der Hauptgegenstand der Geschichte herausstellen.
Richtig. Vermutlich habe ich deswegen auch Momentum gemacht. Der Film
zeigt eine Tanzperformance, an der ich als Kind im Lincoln Center
teilgenommen habe, als ich im Bernice Johnson Dance Studio war, einer
Schule im Stadtteil Jamaica in Queens, die sich auf den Choreografen
Alvin Ailey bezog. Als der Auftritt losging, wünschte ich mir, im
Publikum zu sitzen. Ich war golden angemalt, trug einen Afro,
Spitzenschuhe – wie in Las Vegas. Ich wollte das sehen! Der Tanz war
von Bernice Johnson nach Duke Ellingtons Stück Sophisticated Lady
(1932) choreografiert. Die Woche davor war Ellington gestorben. Damals,
1974, wäre ich Tänzerin geworden, wenn ich es geschafft hätte, aus dem
Dunklen der Bühne heraus eine Beziehung zum Publikum zu entwickeln. In
diesem Sinne wollte ich bei Momentum ein gestochen scharfes Bild von
etwas Verschwommenen haben, das im Verborgenen liegt. Ich liebe
Überraschungen, ich mag es, wenn ich unsicher bin. Ich mag es, Sachen
zu machen, die vielleicht unsinnig sind. Ich mag es, etwas Unbekanntes
zu machen, das von dem abweicht, wofür meine Arbeit eigentlich steht.
Deswegen gelingt auch nicht jede meiner Zeichnungen.
Im Film
"Easy to Remember" (2001), der im Whitney Museum of American Art gezeigt
wurde, sieht man in Nahaufnahmen eine Reihe von summenden Lippen. Sie
sehen wie Wunden aus. Der Ton hört sich an wie der Gesang einer
Sträflingskolonne oder wie Kirchengesänge. Der Gesang wirkt alt,
langsam, zeitlos, aber dennoch seltsam zeitgenössisch. Sie haben die
Arbeit als Raster von Stimmen präsentiert, die von ihren Körpern
getrennt sind.
Als ich ein Kind war, spielten meine Eltern John
Coltranes Aufnahme des Liedes von Rodgers und Hart. Bis heute ist es
mein Lieblingsstück. Ich machte ein Casting mit den Sängern, wobei ich
jeden von ihnen filmte, wie er mit Kopfhörern Coltranes Easy to
Remember hörte. Eine Kamera mit einer gewaltigen Linse nahm dabei so
viel von ihren Gesichtern wie möglich auf. Beim Mitsummen muss man
zwischen verschiedenen Oktaven wählen und sich für eine bestimmte
Richtung entscheiden. Während dieses Prozesses gerieten die Sänger aus
dem Gleichgewicht. Für mich lag der Fokus der Arbeit eher auf der Musik
als auf den visuellen Aspekten bei der Bildung dieses Chors. Ich wollte
etwas machen, was den Körper in den Dienst der Musik stellt, es ging
nicht um das Singen selbst.
Die visuelle Struktur entsteht aus dem Rhythmus und vielleicht sogar mehr noch aus der Kadenz.
Genau. Das ist Jazz. Ich wollte hin zu Coltrane. Es geht nicht um die
Melodie, es geht um eine Kadenz und um ein Gefühl; um die Wege, durch
die Oktaven zu wandern, um verschiedene Interpretationen zu schaffen.
Und darum, Dinge auseinander fallen oder verschmelzen zu lassen.
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