Glaubensfrage: Gibt es ein Comeback des Religiösen in der Gegenwartskunst?
Lange Zeit schien die schwindende Bedeutung des Religiösen
ein ebenso stabiler gesellschaftlicher Trend wie die Individualisierung und die
Globalisierung zu sein. Doch spätestens seit dem 11. September gewinnen religiöse
Aspekte in allen Bereichen der Gesellschaft neue Bedeutung. Gilt das
auch in der Gegenwartskunst? ArtMag stellt dem Kunstbetrieb die Glaubensfrage.
 Illustration: Sarah Illenberger
Die Debatten um die
Katholische Kirche, die Nahostpolitik und den Islam zeigen, dass Religion
verstärkt als Bestandteil kultureller Identität verstanden wird. Doch obwohl sich aktuelle Kunst aus religiösen Themen
speiste und Transzendenz beschwor, war im White Cube religiöse Kunst lange
tabu. Künstler äußerten sich zumeist nur ungern über ihren Glauben.
Religiosität galt als Privatsache. Zugleich widmen sich immer mehr
Ausstellungen demThema Kunst und Religion: etwa 2006 die Biennale in Singapur
mit dem Titel Belief, 2008 Traces du Sacré im Pariser Centre Pompidou, Medium Religion im Karlsruher ZKM 2009 oder Animismus im Berliner Haus der
Kulturen der Welt 2012. Gibt es also ein Comeback der Religion in der aktuellen
Kunst?
 Thomas Bayrle. Photo: Wolfgang Günzel Courtesy Galerie Barbara Weiss, Berlin
Thomas Bayrle
Aus meiner Sicht: Es gibt eine Renaissance – weil es neue
Einblicke und Verbindungen gibt. Was bisher getrennt war, ist es nicht mehr
unbedingt! Das hat vor allem nichts mit New Age zu tun – aber auch nicht mit
einem Rückwärtsgang, sondern eher damit, dass prinzipielle Gegensätze eventuell
keine mehr sind …
Thomas Bayrle ist Künstler. Bei seiner Installation für die
letzte documenta verband er Maschinenwelten mit einem Soundtrack aus
Rosenkränzen und Fürbitten.
 Anselm Franke. Photo: Jakob Hoff. © HKW
Anselm Franke
Es gibt einen wichtigen Trend, sich mit religiösen
Themen zu
befassen, aber es gibt sicherlich keine Welle religiöser oder gar
sakraler
Kunst in der zeitgenössischen Kunst. Das ist ein wichtiger Unterschied.
Es ist
eine immer noch gültige, unsichtbare Hintergrundbedingung der
zeitgenössischen Kunst, dass sie außerhalb der Glaubenspraktiken steht,
diese
bestenfalls zitiert. Der historische Bruch mit der Religion setzt sich
fort. Wir
kämen ja nicht auf die Idee, etwas, das irgendjemand anbetet, in die
Museen zu
hängen. Mystische Erfahrungen jedoch stehen bei Künstlern heute hoch im
Kurs –
sowohl als Thema wie auch als Eigenerfahrung. Aber das ist nicht neu,
man denke
an die Surrealisten, aber auch an Sol LeWitt, der die Konzeptkünstler zu
Mystikern erklärte. Die mystische Erfahrung ist ja so etwas wie ein Gegenstück
zur Realität, und das ist natürlich für fast jeden Künstler ein Bezugspunkt und
auch eine Ressource. Den besten Künstlern gelingt es, die Unterscheidung von
mystischer Erfahrung und Alltagserfahrung aufeinander abzubilden und zu
destabilisieren, ohne aber je die Mystik zum Beispiel als das realere Prinzip
hinzustellen – da wären wir sofort beim Glauben. Und der ist inkompatibel und
zerstört gar die Souveränität der Kunst und eben jene Art von Erfahrungen,
wegen denen wir Kunsträume aufsuchen. Es lohnt sich, über die These Bruno
Latours nachzudenken, der sagt, dass der „Glaube“, so wie wir ihn heute in
säkularen Gesellschaften kennen, eine Erfindung der Moderne ist, eben weil er als
von einer anderen Wirklichkeit losgelöst wahrgenommen wird.
Anselm Franke ist Kurator am Berliner Haus der Kulturen der
Welt, wo er 2012 das Projekt "Animismus" zeigte. Diesen April eröffnet dort die
Ausstellung "The Whole Earth", die er gemeinsam mit Diedrich Diederichsen
kuratiert hat.
 Jörg Heiser. Photo: Stefan Maria Rother
Jörg Heiser
Moderne Kunst hat zahllose Darstellungen hervorgebracht, die
Ähnlichkeit zum Religiösen aufweisen: huldvolles Aufschauen zum Himmel, tiefe
Blicke in die Augen und dahinter, ekstatische Gemeinschaftserfahrungen,
Visualisierungen solitärer mystischer Einsicht. Gleiches gilt für die Popmusik:
DJs auf der Kanzel, ekstatischer Tanz, Demutsbekundung am Bühnenrand, Verse der
Verehrung im Chor, Heiligenverehrung. Es ist aber ein Fehler, von Ähnlichkeit
auf Wesensgleichheit zu schließen. Kunst und Religion sind im Gegenteil wie Wasser
und Öl (Emulsionen sind möglich). Zumindest sind sie das, wenn man nicht
geschichtsvergessen die ca. letzten 224 (Französische Revolution und die
Folgen) bis ca. 900 Jahre (Übersetzer von Toledo: Relativierung christlichen Absolutheitsanspruchs
und Eurozentrismus durch Zugang zu altgriechischem und arabischem Wissen aus
Philosophie, Astronomie, Mathematik etc.) wegwischen will, in denen nicht nur
die Kunst aus alles umschließender religiöser Macht sich nach und nach frei
ruderte, sondern auch die Politik und die Wissenschaft. Mit den bekannten
Folgen, die sich kurz und bündig mit Dialektik der Aufklärung benennen
lassen. In religiös dominierten Gesellschaften sind Wissenschaft und Kunst in
Religion verkapselt: Wissensneugier ist vom Glauben und seinem Machtanspruch
gebändigt, Kunst dient religiöser Verkörperung. In dem Maße, in dem
(institutionelle) Religion Kunst gelten lässt, wird sie säkularer; in dem Maße,
in dem heute in Kunst Mystik und Spiritualität auftauchen, ist sie aber nicht
umgekehrt religiös. Sondern sie fasst die gleichen spirituellen Bedürfnisse in
ein radikal anderes System, das weniger vom Glauben als vom Zweifel dominiert
wird. Was nicht ausschließt, dass es Künstler gibt, die sich für Propheten und
Heilande halten. Um es mit den Worten des Kunstkritikers Dan Fox (wiederum im Geiste Claes Oldenburgs) zu sagen: Ich bin für eine Kunst, die weiß, wo sie
aufhört und das Leben anfängt. Ich bin für eine Kunst, die nicht gleich Jesus
in einer Scheibe Toast sieht.
Jörg Heiser ist Co-Chefredakteur von frieze und Herausgeber
von frieze d/e.
 Silvia Henke. Photo: © Marvin Zilm (Das Magazin)
Silvia Henke
1. Religiöse Kunst ist tabu! Religiöse Kunst gibt es in
Kirchen, in historischen Museen, allenfalls noch in Museen für außereuropäische
Kunst und im Umfeld geistig verwirrter Künstler oder Künstlerinnen. Nicht aber
in den White Cubes der großen Kunsttempel. Wenn sie der großen reinen Kunst zu
nahe kommt, fühlt sich diese „bedroht“ – wie etwa die documenta-Chefin Carolyn
Christov-Bakargiev angesichts der Holzfigur des Künstlers Stephan Balkenhol
auf dem Kirchturm von St. Elisabeth in Kassel.
2. Während einzelne Künstler und Künstlerinnen für sich sehr
wohl eine bestimmte subjektive Religiosität in Anspruch nehmen (über die sie
allerdings oft nur ungern Auskunft geben), verstehen sich zeitgenössische
Kunstausstellungen, die voll sind von religiösen Symbolen, Themen,
Inszenierungen, nicht als religiöse Ereignisse, sondern als Kultur. Kultur, die
den heißen Kern des Religiösen usurpiert hat, nämlich die Frage des Glaubens
und der Konfession.
3. Den Glauben an Gott einfach durch den Glauben an die
Kunst zu ersetzen, ist nur ein Trick, um den sozialen und moralischen Fragen
der Religion auszuweichen. An die Kunst zu glauben, so der Kunsthistoriker
Wolfgang Ullrich, bedeutet nämlich, dass sich die verbindlichen Fragen der
Religion im Gewand der Kunst erledigt haben. Bei dem Begriff von „hoher Kunst“
geht es immer um Geistiges, Unsagbares, Verborgenes, es geht um die Aura,
spirituelle Stimmungen oder um die Transzendenz der Kunst schlechthin.
4. Es wäre nützlicher für die zeitgenössische Kunst zu
akzeptieren, was Religionssoziologen und Philosophen für die gesamte westliche
Gesellschaft seit Längerem diagnostizieren: Sie befindet sich im Stadium des
Postsäkularen, ein Begriff, mit welchem religiöses Denken sich selber kritisch
darlegen lässt und säkulares Denken die Allgegenwärtigkeit des Religiösen in
seinen multiplen Erscheinungen im Prozess der Säkularisierung mitdenkt (Jürgen
Habermas).
5. Man kann und muss etwas erwarten vom Zusammentreffen von
Kunst und Religion heute. Künstlerische Werke, die sich präzis mit religiösen
Formen und Bedeutungen auseinandersetzen, können vermitteln zwischen stummem
Glauben und rationalem Wissen; sie gehören weder zu einer dogmatischen Religiosität,
die Glauben mit Überzeugung verwechselt, noch zu einer ganz individualisierten
Egal-wie-und-was-Religiosität, in welcher Glauben reine Privatsache ist. Wenn
künstlerischen Werken eine Übersetzung von sakralen Zeichenwelten in die Sprache
der säkularen Kunst gelingt (meisterhaft bei Mark Wallinger), dann geschieht
dies nicht so sehr als Blasphemie oder als Destruktion des Religiösen, sondern,
im Sinne von Jean-Luc Nancy, als „rettende Dekonstruktion“.
6. Im Sinne einer interkulturellen Verständigung wäre es
eine Chance, wenn westliche Künstler/innen sich klarmachten, dass die
Säkularisierung ein europäisches Projekt ist; zum Verständnis anderer Kulturen
gehört auch ein Verständnis für deren Religionen; dafür ist es nützlich, das
religiöse Fundament unserer Kultur in Erinnerung zu behalten: Das Christentum
hat hierfür ein Bildprogramm entworfen, das noch immer großartig ist. Silvia Henke ist Professorin für Kulturtheorie an der
Hochschule Luzern und Mitherausgeberin des Readers "Kunst und Religion im Zeitalter
des Postsäkularen".
 Christian Jankowski. Photo: Joerg Reichardt Courtesy Galerie Klosterfelde, Berlin
Christian Jankowski
Ich hoffe nicht. Ich habe ein größeres Interesse an Kunst
mit dem Thema Religion als an religiöser Kunst, so wie ich auch Kunst über
Kommerz spannender als kommerzielle Kunst finde.
Christian Jankowski ist Künstler und Professor für
Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. 2011
realisierte er die Videoinstallation "Casting Jesus".
 Brigitte Werneburg Photo: Christina Roth/Stefan Heidenreich
Brigitte Werneburg
Übersetze ich das etwas nebulöse Religiöse mit Religion,
erkenne ich keine Renaissance des Glaubens und der Religion in der
Gegenwartskunst. Wie könnte bei einer solchen Renaissance die Genderpolitik eine
so wichtige Rolle in der Gegenwartskunst spielen? Keine der mir bekannten
Religionen wird etwa jemals Homosexualität akzeptieren. Religion und Glauben
kennen eben nur die eine, offenbarte Wahrheit. Und gegen die Wahrheit helfen bekanntlich
keine Argumente. Nach dem Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht
nass“, zu erwarten, dass sich Glauben mit aufgeklärter Überlegung und freier
Kunst vereinbaren ließe, ist intellektuell schäbig. Insofern schätze ich die
gedankliche Schärfe von Papst Benedikt XVI. Gleichzeitig ist es
aufschlussreich, etwa über Nobert Biskys Fontänen aus Körperflüssigkeiten auf
gefesselten und geschundenen Jungenskörpern in der Presse zu lesen: „Seine gewaltsamen
und explizit sexuellen Gemälde lassen das Publikum staunen, wie einst die
Darstellungen biblischer Szenen in Kirchen.“ Tatsächlich werden die Religionen
mit ihrem kulturellen und künstlerischen Erbe in unserer Gesellschaft und Kultur
weidlich kommunikativ instrumentalisiert. Das religiöse Bekenntnis dient dann
der dandyesken Selbststilisierung wie bei dem Schriftsteller Martin Mosebach,
der Maskerade in Tradition wie bei dem Maler Bisky oder einfach der Abgrenzung oder
Provokation. In den immer wiederkehrenden, typisch modernen oder auch
postmodernen Konjunkturen des Themas Religion und Glauben gleich eine
Renaissance zu erkennen, halte ich für einen Irrtum.
Brigitte Werneburg ist Kunstredakteurin der taz, Berlin.
 Beat Wyss. Photo: Veronika Wyss, February 2013, Bennington Museum, MA
Beat Wyss
Entgegen einer unhistorischen Auffassung von „Weltkunst“ beruht
künstlerische Aktivität auf gesellschaftlichen Errungenschaften, die ich die
„vier Tugenden des Kunstsystems“ nenne: 1. die Achtung des Individuums, 2. die
soziale Wertschätzung von Arbeit, 3. offene Tausch- und Handelspraktiken, 4.
die Freiheit öffentlicher Meinung.
Fehlt nur eine der
vier Qualitäten, ist Kunst in Gefahr oder wird gar unmöglich gemacht. Diese
Errungenschaften haben sich über Jahrhunderte entwickelt von der Philosophie
des Humanismus über eine bürgerlich-ökonomische Ethik zur Politik verfasster
Demokratien und den Befreiungsbewegungen in den Kolonien. Die vier Tugenden
bilden, nach Michel Foucault, die vier „historischen Apriori“ von Kunst. Keine
andere Plattform, als das globalisierte Kunstsystem, ermöglicht das
Laiengespräch über Gott und die Welt. Die metropolitane Gegenwartskunst ist im
Begriff, Weltreligion zu werden. Die herkömmlichen Glaubensbekenntnisse sind
global nicht mehrheitsfähig, denn Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und
Hinduismus bringen mit ihren Traditionen die kulturelle Beschränkung ihrer
regionalen Mentalitäten und Herrschaftseliten mit.
Die Religion metropolitaner
Kunst hingegen überwindet diese Grenzen, weil sie auf der Basis der
globalisierten Gesellschaften erst entstanden ist. Die postkoloniale Definition
von Zentrum und Peripherie wird jetzt umgewertet im Sinne eines neuen
Internationalismus: Es gelte der Erdmittelpunkt als kulturgeografische
Universalie; demnach ist jeder Ort auf der Peripherie des Globus gleich weit
vom Zentrum entfernt. Kunst bezieht ihre auratische Kraft von der Autonomie
gegenüber praktischen Zwecken. Es ist ihr exorbitanter Standpunkt in der
Gesellschaft, der es ihr erlaubt, vom Weltgerüst herunter eine kritische
Position zu beziehen. Ihr praktischer Nutzen ist nicht politische Tat, sondern
die Ermächtigung des politischen Bewusstseins mit ästhetischen Mitteln. Kunst gibt
der Gesellschaft keine praktischen Gebrauchsanweisungen. Ihre Angebote bohren
sich in dunklere Zonen hinein, bis hinunter in das schwer Vermittelbare und
Unzugängliche des machtlosen Subjekts. Kunst steht ein für das Recht des Individuums,
„in-dividum“, ungeteilte Person zu sein. Künstlertum vertritt die Figur des
Anderen, jenes Unteilbaren jenseits öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Aus
Kunstwerken spricht nicht „common sense“, sondern „Dissens“. Die Politik der
Kunst besteht darin, das Neinsagen zu üben und dessen Toleranz öffentlich zu
vermitteln. Das Neinsagen-Können ist die Grundlage einer offenen Gesellschaft und
die Kunstausstellung der Ort, wo dies geübt wird.
Beat Wyss ist Kunsthistoriker und Professor für
Kunstwissenschaft und Medienphilosophie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.
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