Philip-Lorca diCorcia, Head #23, 2001. Courtesy of the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca di Corcia, Cuba, n.d.Deutsche Bank Collection. © Philip-Lorca DiCorcia. Courtesy Pace/MacGill Gallery, New York
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Philip-Lorca diCorcia, Eddie Anderson, 21 years old, Houston, Texas, $ 20, 1990-92
Fujicolor Crystal Archive print 30 x 40 inches (76.2 x 101.6 cm) Courtesy
the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca diCorcia, Lola, 2004. Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca diCorcia, The Hamptons, 2008. David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca diCorcia, Ike Cole, 38 years old, Los Angeles, California, $ 25, 1990-92. © Courtesy of the artist und David Zwirner, New York und Sprüth Magers, London/Berlin
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Philip-Lorca diCorcia, New York City, 1996. Courtesy of the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca diCorcia, Norfolk, 1979. Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca diCorcia, Sylmar, California, 2008. Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca diCorcia, Wellfleet, 1993. Courtesy of the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca di Corcia, London, n.d. Deutsche Bank Collection. © Philip-Lorca DiCorcia. Courtesy Pace/MacGill Gallery, New York
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Philip-Lorca diCorcia, Head #10, 2001. Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London
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Philip-Lorca diCorcia, Hong Kong, 1996. Courtesy the artist und David Zwirner, New York/London
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Immer wieder musste Katharina Dohm den vergriffenen Bildband durchblättern. Von vorne nach hinten, von hinten nach vorn. A Storybook Life – ein Buch mit zwischen 1975–1999 entstandenen Bildern des amerikanischen Fotografen Philip-Lorca diCorcia
– ließ der Kuratorin der Frankfurter Schirn-Kunsthalle keine Ruhe mehr.
„Irgendetwas fesselte und verstörte mich zugleich“, sagt sie. „Also bin
ich nach New York gefahren und habe diCorcia überzeugt, diese
Ausstellung zu machen.“ Und so entfaltet sich das Storybook Life
jetzt in der Schirn, wie ein begehbares Fotobuch. Vom Anfang, wo der
schon etwas gebrechliche Vater des Künstlers vom Bett aus Fernsehen
schaut, bis zum Ende, wo er vor ein paar leeren Stuhlreihen im Sarg
liegt. Dazwischen liegen 74 Aufnahmen, in denen diCorcia Verwandte und
Freunde in banalen Alltagsituationen festgehalten hat. Der Bruder, der
eine Decke renoviert, eine Frau, die bügelt, ein Freund, der seinen
zerstochenen Arm auf die Schreibmaschine legt, als würde er gleich
lostippen. Sie wirken wie dokumentarische Schnappschüsse. Und doch ist
alles inszeniert. Es sind in der Bewegung eingefrorene Momente, die
kein Vorher und Später haben. Die Frau wird nie fertig bügeln und der
Freund nie einen Roman schreiben. Und trotzdem sucht der Betrachter
immer wieder nach einer Story hinter den Figuren, vielleicht sogar
einer „Lebensgeschichte“ wie sie der Titel der Serie schließlich
suggeriert. Aber es gibt sie nicht.
„Ich denke, es ist eher das Enigmatische, die Andeutung einer
Geschichte, was die Leute fasziniert“, erklärt diCorcia „Ich bezweifle,
dass sie noch interessiert wären, wenn die Geschichten offensichtlicher
wären.“ Dabei liegt ihm das Erzählen eigentlich sehr nahe. Ursprünglich
hatte er sogar Filmemacher werden wollen. „Während meiner Zeit auf der
Kunsthochschule hat mich Film sehr interessiert, sowohl auf einer
ästhetischen wie auf einer emotionalen Ebene. Die Möglichkeit dieses
Mediums, Zweifel außer Kraft zu setzen und seine emotionale Kraft habe
ich immer bewundert.", erzählt er. Tatsächlich sehen viele seiner
Fotografien aus wie Film-Stills, scharf ausgeleuchtet und eindeutig
inszeniert. „Das stimmt. Aber im Film geht es nicht um Style, es geht
um Geschichten. Und zu einem Drehbuch haben die Geschichten, die ich
mir manchmal über meine Protagonisten ausdenke, nie gereicht.“
DiCorcias neueste Serie East of Eden
hat ganz offensichtlich eine fiktionale Grundlage. Nicht nur, weil der
Titel an das Buch Genesis, Adam und Eva und die Vertreibung aus dem
Paradies anknüpft. Jenseits von Eden ist auch der Titel eines
berühmten Steinbeck-Romans – 1955¬ bravourös verfilmt mit James Dean –
der angelehnt an die Geschichte von Kain und Abel die Kehrseite des
amerikanischen Traums erzählt. East of Eden hat aber auch eine
ganz reale Grundlage: „Als die Finanzkrise begann, war das wirklich wie
ein Verlust der Unschuld, den die ganze Welt erlebt hat. Die
Finanzkrise war der Beginn einer Wirtschaftskrise, die eine politische
Krise nach sich zog. Es hat zwei Regierungen gedauert, bis klar wurde,
dass der Irak-Krieg auf einer Lüge basierte, dass Saddam Hussein nicht
mit Al-Quaida zusammenarbeitete und dass Afghanistan unmöglich zu
transformieren sein würde. Jetzt haben wir Naturkatastrophen, die wir
uns in diesem Maße nicht einmal vorstellen konnten. Und dann sind da
all diese Menschen ohne Dach über dem Kopf. Ich spürte den zwingenden
Drang, darauf zu antworten. Ich antworte nie direkt. Aber diesmal gab
es eine klare Motivation eine neue Symbolik zu entwickeln.“
Diese Symbolik sieht in den East of Eden-Bildern ziemlich
traurig aus. Adam und Eva sind ein blindes Paar, er schwarz, sie weiß,
umgeben von dem, was ihnen vom Leben geblieben ist – ein bescheidenes
Zuhause und ein weißer Labrador. Dass die beiden blind sind, bedeutet
für diCorcia nicht nur, dass sie am Leben nur eingeschränkt teilhaben
können. Sie haben auch den Blick ins Paradies verloren. „Blinde, die
von Geburt an blind sind, träumen nicht. Jedenfalls nicht in dieser
verschlungenen Bilderflut, die Sehende aus ihren Träumen kennen.“ Und
noch eine weitere Version von Adam und Eva hat diCorcia inszeniert. In
einem reinweißen Luxusapartment hocken zwei reinweiße Rassehunde und
starren auf einen Porno, der gerade im Fernsehen läuft. Ein Moment der
Erkenntnis? Verlust der Unschuld? Symbol einer pervertierten Gier nach
Luxus?
Noch zugespitzter überlagern sich die Probleme, unter denen Amerika
aktuell leidet, – Finanzkrise, Überschuldung und Naturkatastrophen –
in seiner Aufnahme Iolanda.
Wie absurd und größenwahnsinnig müssen der Frau die New Yorker
Hochhäuser vorkommen, diese Symbole von Wachstum und Wohlstand, die sie
von ihrem Hotelzimmer aus sieht? Im Fernsehen rast schon der nächste
Tornado auf die Stadt zu. Doch die Frau starrt auf die friedliche
Skyline – und ihr Spiegelbild, das sich im Panorama-Fenster darüber
legt.
Den Kunstgriff, über einen laufenden Fernseher eine zweite Ebene in das
Bild zu holen, hat diCorcia schon in früheren Arbeiten eingesetzt. In
der Serie Hustlers,
für die er Anfang der neunziger Jahre männliche Prostituierte rund um
den Santa Monica Boulevard in Hollywood fotografierte, findet sich auch Gerald Hughes (a.k.a. Savage Fantasy), about 25 years old, Southern
California, $50. In einem Tanga, an dem ein Schlüsselanhänger baumelt,
posiert Gerald in einem Motel-Zimmer. Auf seinem schwarzen, muskulösen
Körper schimmert das Licht des Fernsehers, in dem die Bill Cosby Show
läuft – die erste US-amerikanische Serie, deren Protagonisten
Afroamerikaner der oberen Mittelklasse waren. Ein krasser Gegensatz zu
dem Mann, der nur 50 Dollar für seine Dienste nimmt und dessen Name Savage Fantasy, an das Klischee des „wilden“ Schwarzen appelliert.
DiCorcia interessiert sich besonders für Menschen, die am unteren Rand
der Gesellschaft leben. Außenseiter, Arme, Blinde, Prostituierte. Das
zeigt sich auch in seiner 2004 entstandenen Serie Lucky 13,
deren Titel auf die amerikanische Redensart anspielt, dass die
Pechsträhne endlich ein Ende habe möge. In einem Club fotografierte er
nackte Frauen in akrobatisch-erotischen Posen beim Tanz an der Stange.
Kopfüber, den Oberkörper parallel zum Boden, nur gehalten durch die um
die Stange geschlungenen Fesseln. Vor dem im Dunkel verschwindenden
Hintergrund der Bar leuchten die schlanken Körper der Pole Dancer weiß
und glatt. Fast wie Marmorskulpturen gefallener Engel.
„Das ist ein Nebeneffekt, der durch die Beleuchtung entsteht“, erklärt
diCorcia. „Aber er ist notwendig, weil ich ein visuelles Objekt
schaffe. Ich versuche, den Betrachter nicht vor den Kopf zu stoßen –
wenigstens nicht visuell. Er soll sich das Bild einmal, zweimal,
mehrere Male anschauen können. Ich mache nicht diese Art von
Fotografie, die ‚Boom’ macht und das war’s.“ In der Tat liegt hinter
diCorcias Bildern noch eine tiefere Ebene. Die Tänzerinnen sind für ihn
eine Metapher für die Menschen, die aus dem World Trade Center gefallen
sind. Sie hängen fast immer kopfüber, als würden sie fallen. „Ich habe
Höhenangst und das schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist von
einem hohen Gebäude aus herunter zu fallen. Mir kam es so vor, dass die
USA eine Art Fetisch aus 9/11 gemacht haben. So fügte sich für mich das
eine zum anderen. Auch in der Mythologie sind Eros und Thanatos eng
miteinander verbunden. Sie sind jeweils die Kehrseite des anderen.“
Zusammen mit David Armstrong, Nan Goldin, Mark Morrisroe und Jack Pierson,
die wie diCorcia im Boston der siebziger Jahre Fotografie studiert
haben, wird der 1951 geborene Künstler häufig unter dem Stichwort Boston School
abgehandelt. Dabei fallen immer wieder Begriffe wie
„Schnappschussästhetik“ oder „gesellschaftliche Außenseiter“. Zwar
existieren thematische und formale Überschneidungen im Werk dieser fünf
Künstler, doch jeder von ihnen hat eine ganz eigene fotografische
Sprache entwickelt. DiCorcia jedenfalls lehnt dieses Label vehement ab.
Bekannt wurde er mit seiner Serie Streetworks
(1993–1999), für die er nichts ahnende Passanten auf dem Weg zur
Arbeit, nach Hause, zum Einkaufen oder zum Sport fotografierte. Wie für
die Hustler-Serie wählt diCorcia vorher Ort, Standort der
Kamera und Komposition des Bildausschnitts sorgfältig aus und leuchtet
seine Sets mit aufwendigen Aufbauten aus. Alles wird mit Hilfe von
Polaroids dokumentiert. In diese Filmset-artige Apparatur laufen die
Passanten dann zufällig hinein und lösen den „Schuss“ aus.
DiCorcias Lieblingsbild ist Cuba aus dem Jahr 1999, das als Teil der Sammlung Deutsche Bank aktuell in der Ausstellung Stadt in Sicht im Dortmunder U
zu sehen ist. Ein zweiter Abzug hängt in der Frankfurter Ausstellung.
„Ich stand zwei Stunden an dieser Straßenecke in Havanna, bis es anfing
zu regnen“, erzählt diCorcia. „Ich hatte nur elf Fotos geschossen. Aber
später erkannte ich, wie außergewöhnlich diese Serie war, weil sich auf
dieser einen kleinen Straße innerhalb von zwei Stunden so viel
abspielte. Cuba mag ich besonders, weil es so inkongruent
erscheint. Es mag grausam klingen, aber die Frau rechts hat riesige
Hüften und links geht ein kleiner, schwarzer Mann mit verkrüppelten
Beinen. Die Tatsache, dass er der Frau fast lüstern auf den Hintern
schaut, fand ich interessant, auch dass es weder für ihn noch für die
Frau erniedrigend wirkt.“
Oder London, ebenfalls aus der Sammlung Deutsche Bank und in
Dortmund zu sehen: Da geht ein einsamer Geschäftsmann durch die
Londoner City. Straßen und Bürgersteige sind vollkommen leer, obwohl es
mitten am Tag ist. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Mann Kopfhörer
trägt, was in den späten Neunzigern noch nicht zur üblichen
Grundausstattung des modernen Großstädters gehörte. Er macht sich taub
für die Welt, dabei ist seine Umgebung ohnehin schon leer und still.
Für diCorcia ist das ein signifikantes Phänomen unserer Zeit: „Ich habe
das Gefühl, dass dies eine Art Versenkung in sich selbst ist. Diese
Geräte kapseln uns von allem ab, was um uns herum geschieht. Und als
Fahrradfahrer in New York kann ich sagen: Diese Leute sind wirklich
gefährlich. Sie nehmen nichts mehr wahr außer sich selbst.“
Von Streetworks ist der Weg zu diCorcias nächster Serie Heads
(2000–2001) nicht mehr weit. Anstatt eine hektische Straßenszene in
ihrer Gesamtheit aufzunehmen, fokussiert er Scheinwerfer und Kamera nun
auf eine einzelne Person. Eine alte Frau versteckt sich unter ihrem
Regenhut, ein pickliger Teenager stiert ins Leere, ein schwarzer
Sicherheitsmann blickt resigniert zu Boden. Niemand schaut in die
Kamera. Denn niemand hat sie bemerkt. Und trotzdem glaubt man, etwas
Charakteristisches in diesen Gesichtern zu sehen, etwas Wahres,
Intimes. Auch wenn der Porträtierte innerhalb des Bruchteils einer
Sekunde schon wieder vorbei gegangen ist. Das wirft das ganze Konzept
der klassischen Porträtfotografie durcheinander. Denn was ist ein lange
vorbereitetes, wohl inszeniertes Porträt wert, wenn man im
Schnappschuss eines Unbekannten genauso viel erkennen kann?
Genau dieses „Erkennen“ war einem der Porträtierten, einem orthodoxen
Rabbiner, unheimlich. Er hatte sich bei einer Ausstellung von diCorcias
Werken wieder erkannt und den Fotografen verklagt. Er sah seine
Persönlichkeitsrechte verletzt und fühlte sich an der freien Ausübung
seiner Religion gehindert. Doch diCorcia bekam Recht – als Künstler.
Dennoch distanziert er sich von dieser Titulierung: „Das Wort
‚Künstler’ hat etwas sehr Scheinheiliges. Als wären sie eine eigene
Rasse. Picasso hat einmal gesagt, Kunst sei die Lüge, die die Wahrheit
offenbare. Aber ich glaube einfach nicht, dass Künstler eine besondere
Verbindung zur Wahrheit haben. Das mag über die Jahrhunderte für ein
paar Genies stimmen. Aber heute wird Kunst doch aus ganz praktischen
Gründen gemacht: um eine Banklobby zu schmücken oder das Ego eines
Hedgefond-Managers.“
Schaut man sich die Bilder von East of Eden noch einmal an,
kommt man auf andere Gedanken. Wie seit eh und je reitet der
Marlboro-Mann durch die Prärie. Es könnte alles so schön sein. Doch das
Land, wo einst Milch und Honig flossen, ist abgebrannt. Eva, so steif
und schön wie eine Barbie, steht eingefroren unter einem Baum. Sogar
der Apfelbaum, den diCorcia mit Hilfe von Photoshop so dicht und
prächtig gemacht hat, dass ihm die Ewigkeit nichts anzuhaben scheint,
steht in Wirklichkeit nicht mehr. Ein Hurricane hat ihn aus der Erde
gerissen. Emblematischere Bilder für den Tod des amerikanischen Traums
kann es kaum geben. Und da soll nichts Wahres dran sein?
Philip-Lorca dCorcia: Photographs 1975 - 2012
Schirn-Kunsthalle, Frankfurt
Bis 8. September 2013
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