H�rte und Gef�hl:
„Ways of Seeing Abstraction” im PalaisPopulaire

Die aktuelle Pr�sentation aus der Sammlung Deutsche Bank rollt die Geschichte der Abstraktion von den beginnenden 1960er-Jahren bis heute auf: Aus unterschiedlichen Zeiten und Str�mungen zusammengestellt, zeigt sie, wie vielf�ltig, umstritten und auch politisch abstrakte Kunst sein kann.
Der Drang, „sein gesicht und alles, was einem erreichbar ist, zu ornamentieren“, schreibt Adolf Loos 1908 in seiner Kampfschrift Ornament und Verbrechen, „ist der uranfang der bildenden kunst. Es ist das lallen der malerei.“ Ornament, so postuliert der Wiener Architekt und Architekturkritiker damals, sei etwas f�r Kinder und „primitive“ V�lker, wie etwa die Papua, aber f�r den modernen Menschen ein Zeichen der Degeneration. Doch er habe da ein Gegenmittel, verk�ndet der Wegbereiter der modernen Architektur und des modernen Designs: „Ich habe folgende erkenntnis gefunden und der welt geschenkt: evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande.“ Das abstrakt-geometrisch Reduzierte ist f�r Loos, wie f�r so viele seiner Zeitgenossen, der Ausdruck einer h�heren Kulturstufe der Menschheit. Bis heute verbindet sich die geometrische Abstraktion f�r viele Menschen noch immer mit dem Gedanken von Avantgarde und Fortschritt, auch mit Strenge, Sachlichkeit, Emotionslosigkeit, dem Gef�hl, dass Abstraktion nichts mit dem Leben zu tun hat.

Das Werk der Berliner K�nstlerin Claudia Wieser ist von der geometrischen Kunst der Moderne im anbrechenden 20. Jahrhundert inspiriert. Und wie Loos besch�ftigt sie sich mit Architektur, Design und Innenausstattung. Doch in ihrer eigens f�r die Rotunde des PalaisPopulaire entwickelten Installation In the Round (2020/21) stellt sie Loos` Purismus und dessen schroffe Absage an das Ornament und die Freude am Dekor sanft, aber ebenso radikal infrage. Wiesers riesige, mit selbst glasierten Kacheln verkleidete Stehle, die fast bis unter die Decke ins Obergeschoss reicht, ihre Spiegelarbeiten, die Kachelskulptur, die an eine Bank, ein Fenster oder ein auf den Kopf gestelltes Tor erinnert, sind abstrakt reduziert. Doch sie sind �berzogen von geometrischen Formen, Kreisen, Dreiecken und Rhomben. Ein Kachel-Mix aus flirrenden Linien, modernen Mustern und Farbfeldern, die fast musikalisch miteinander korrespondieren, Br�che und Kontrapunkte setzen und so das ganze Treppenhaus dynamisieren.

Wieser feiert die Freude am Dekor, an der Einrichtung, am Kunsthandwerk. Dabei k�nnte ihre Arbeit ebenso von den spirituellen Abstraktionen von Wassily Kandinsky oder Paul Klee inspiriert sein. Die W�nde der Rotunde sind mit vergr��erten Schwarz-Wei�-Drucken plakatiert, auf denen klassizistische Skulpturen und Architekturdetails des urspr�nglichen Stadtschlosses auf moderne Geometrien und ein angeschnittenes Portr�t der K�nstlerin treffen. Geschichte, Kunstgeschichte, Fortschritt, sogar die eigene k�nstlerische Biografie vollziehen sich nicht pfeilgerade und zielgerichtet, sondern eher in einer Kreisbewegung, deutet Wieser an – wobei Formen, Ideen, Motive und Themen immer wieder neu zusammengestellt und reflektiert werden.

Nicht ohne Grund leitet Wiesers Installation die j�ngste Ausstellung aus der Sammlung Deutsche Bank ein. Ways of Seeing Abstraction hei�t die von Friedhelm H�tte kuratierte Schau, die mit 168 Werken von 47 K�nstler*innen aus vierzehn L�ndern die unterschiedlichen Str�mungen in der Abstraktion von 1959 bis heute beleuchtet. H�tte, der die Sammlung Deutsche Bank seit vielen Jahren verantwortet und auch die Auswahl der abstrakten Arbeiten entscheidend mitgepr�gt hat, ging es um eine assoziative, pers�nliche Herangehensweise, die ebenfalls von der Idee des Samplings inspiriert ist.

So greift die Ausstellung immer wieder bestimmte Motive oder formale Verbindungen auf. In zahlreichen Arbeiten finden sich Bez�ge zu den Utopien und dem Scheitern der klassischen Moderne. Oft geht es um den Ausbruch aus der rein formalen, geometrischen Abstraktion, sei es durch die Verbindung mit gestischer Malerei oder die Aufladung mit Politik, Geschichte oder der eigenen Biografie. Abstraktion, das verdeutlicht die Ausstellung, ist nicht erhaben, „gegenstandslos“ oder neutral, sondern immer eng mit den Diskursen um Geschichte, Kultur und Identit�t verbunden. Dabei vermittelt Ways of Seeing Abstraction, wie sich unterschiedliche abstrakte Strategien in unserer globalisierten und vernetzten Welt weiterentwickelt haben.

So trifft man gleich zu Beginn der Ausstellung auf wichtige Vertreter*innen der konkreten und konstruktivistischen Kunst der 1960er- und 1970er Jahre, wie etwa G�nter Fruhtrunk oder Erwin Heerich. Es ist kein Wunder, dass Fruhtrunks 1975 entstandene Leinwand Offenes Wei� (ET-II 75) an eine Aldi-T�te erinnert, denn die hat der M�nchener K�nstler tats�chlich gestaltet. Das Design �berschattet bis heute sein restliches, sehr k�hnes Werk. Wie die meisten konstruktivistischen oder minimalistisch-abstrakten K�nstler*innen seiner Generation, etwa Georg Karl Pfahler oder Ulrich R�ckriem, die auch in der Ausstellung zu sehen sind, gestaltete Fruhtrunk nicht nur Logos, sondern im Rahmen von „Kunst am Bau“ auch das Innere von Schulen, Universit�ten, B�roh�usern und sogar das Foyer des UN-Sicherheitsrates in New York. Die abstrakt-geometrische Kunst dieser Zeit ist auf der Suche nach Formen, die von Wissenschaft und Mathematik bestimmt sind, die nichts darstellen oder symbolisieren, sondern sich ganz direkt durch Geometrie, Farbe und Fl�che vermitteln, Ordnung und Transzendenz durch die Wahrnehmung erfahrbar machen.

Doch schon zur selben Zeit gibt es ganz andere gegenstandslose Bewegungen. W�hrend die konkrete Kunst sehr faktisch ist, interessieren sich K�nstler*innen wie Imi Knoebel, Blinky Palermo oder Charlotte Posenenske f�r die gesellschaftlichen, revolution�ren Utopien, die sich mit der russischen Avantgarde und dem Konstruktivismus verbinden. Palermos abstrakte Werke in Ways of Seeing Abstraction entstehen eher im Geiste von Kasimir Malewitsch: uneben, handgemacht, auf eine spirituelle Art bescheiden. Wie auch er versuchen Knoebel und Posenenske, das Pathos der gegenstandslosen Moderne des fr�hen 20. Jahrhunderts mit sich selbst, genauer, mit dem Alltag der abgebr�hten, materialistischen Konsumgesellschaft der 1960er- und 1970er-Jahre in Verbindung zu bringen. Der Weg f�hrt dabei direkt in den Baumarkt, zu industriellen, g�nstigen Materialien. Knoebel, der in dieser Ausstellung mit sehr selten gezeigten „gestischen“ Bildern aus seinem Sp�twerk vertreten ist, konstruiert seine minimalistischen Installationen damals aus Sperrholz. Posenenske wollte ihre Kunstobjekte f�r ein Massenpublikum verf�gbar machen – �hnlich wie Ikea-Produkte sollten sie aus einfach erh�ltlichen Industriewaren nachbaubar sein. Sie selbst sah ihre aus Klebeband auf Karton gefertigten „Streifenbilder“, wie horizontal/vertikal (1965), als Vorl�ufer ihrer ab 1965 entstandenen Metallskulpturen – der Beginn einer kurzen, aber bis heute einmaligen Kunstrevolte. Desillusioniert gab sie 1968 die Kunst auf, begann ein Soziologiestudium und war bis zu ihrem Tod 1985 in sozialen Projekten t�tig.

Die Vorstellung einer demokratischen Do-it-yourself-Abstraktion, die mit einfachsten Mitteln umgesetzt werden kann, und die Faszination f�r industrielle Materialien ziehen sich durch die gesamte Ausstellung. Das wird auch in einer Arbeit sp�rbar, die �ber ein halbes Jahrhundert sp�ter entsteht: Man k�nnte in den Filzstift-Skizzen und gefalteten und mit fluoreszierender Farbe bespr�hten Papierarbeiten der britischen K�nstlerin Rana Begum ein wenig von der Herangehensweise von Posenenske sehen. Doch Begum geht es trotz der Industrial-�sthetik auch um ganz direkte sinnliche und zugleich transzendente Erfahrungen: Sie verbindet die Einfl�sse von Konkreter Kunst, Op-Art und Konstruktivismus mit Elementen islamischer Ornamentik und Architektur.

W�hrend das 2005 entstandene Fotogramm des deutschen Malers Markus Amm fast poetisch die experimentellen Solarisationen des Bauhaus-Meisters L�szl� Moholy-Nagy im Selbstbau-Verfahren aufleben l�sst, sind andere Arbeiten k�hl und faktisch kalkuliert. So auch Gerhard Richters Farbfelder. 6 Anordnungen von 1260 Farben (1974). Schon in den 1960er-Jahren malte Richter Farbmusterkarten ab, damals wirkten die Gem�lde wie ironische Pop-Art-Kommentare zur Farbfeldmalerei. In seinem Offsetdruck spielt Richter dann fast ein Jahrzehnt sp�ter die Grundfarben Gelb, Blau und Rot systematisch in unterschiedlichen Mischverh�ltnissen durch und �berl�sst ihre Anordnung der mathematischen Reihenfolge. Wie er selbst sagt, war das eine Reaktion darauf, „dass die Abstraktion damals ja fast wie eine Religion gefeiert wurde. Die Farbfelder-Bilder waren ja immer polemisch gemeint: als Antwort auf diese sektiererische Annahme, bestimmte Farben w�rden neben anderen besser wirken. Das ging ein bisschen gegen Josef Albers und Max Bill und Richard Lohse.“ Einen �hnlichen seriell-mechanischen Ansatz kann man auch in Peter Roehrs Lochkartenarbeit Ohne Titel (OB-57) von 1966 sehen, die ganz trocken schon den Vormarsch des Computers in den Alltag und die digitalisierte Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts vorwegnimmt und gleichzeitig die Zen-Aura eines Minimal-Kunstwerkes verstr�mt.

Die Grenzen zwischen Transzendenz, dem n�chtern Faktischen und dem Politischen sind in der geometrischen Abstraktion haarfein. Ibn Tulun 98, die 2018 entstandene Arbeit der bulgarischen K�nstlerin Adriana Czernin, mag formal ganz nah an Edelwei� (Ausf�hrung) V (2004) des Schweizers Helmut Federle erscheinen, der aus dem sogenannten „Neo-Geo“-Umfeld stammt, doch sie hat einen v�llig anderen Ursprung. Czernin bezieht sich auf eines der Hauptwerke der �gyptischen Kunstgeschichte. Ausgehend von dem Tableau mit Holzornamenten des Minbar der ber�hmten Ibn-Tulun-Moschee in Kairo aus dem Jahr 1296, entwickelte die K�nstlerin eine Werkserie, die verschiedene Aspekte geometrischer Konstruktion thematisiert. Sie versteht das Ornament dabei als eine Metapher f�r das soziale Gef�ge, f�r kulturelle, gesellschaftliche und pers�nliche Verstrickungen. Ihre Serie thematisiert ebenso die spirituelle Versenkung in geometrische Ordnungen und Ornamente wie auch den Aspekt der Kolonialisierung. So hat sich die abstrakte Moderne auch an den Geometrien islamischer Kunst und Architektur bedient und sie in ihrem eigenen Kanon absorbiert.

Auch Score for Sustained Blackness Set 1, die 2014 entstandene Serie der US-amerikanische K�nstlerin Jennie C. Jones, k�nnte auf Anhieb wie eine rein formale Komposition mit Schichtungen von Rechtecken und Linien wirken. Doch Jones‘ Soundinstallationen und Papierarbeiten setzten sich mit den Zusammenh�ngen zwischen der "wei�en", abstrakten Moderne, dem Jazz der Harlem Renaissance und der Avantgarde afroamerikanischer Musik auseinander – ein bis heute marginalisiertes Kapitel der Kulturgeschichte. Die politischste Arbeit jedoch h�ngt im zweiten Saal der Ausstellung, der den �berg�ngen von der geometrischen zur gestischen und lyrischen Abstraktion gewidmet ist. Hier finden sich eigentlich „malerische“ Positionen – von den noch im Informell verhafteten Arbeiten von Georg Karl Pfahler aus den 1950er-Jahren �ber die Farbexperimente von Katharina Grosse aus den 1990er-Jahren und Miniatur-Fensterbilder von G�nther F�rg von 2004 bis zu den w�ssrig-organischen Abstraktionen von aktuellen Kunststars wie Jorge Pardo oder Kerstin Br�tsch.

Doch eine Position f�llt aus dem Gestischen heraus: Die 2018 entstandene Linear Painting-Serie der kanadischen K�nstlerin Kapwani Kiwanga wirkt auf den ersten Blick wie minimalistische Farbfeldmalerei. Doch tats�chlich befasst sie sich mit dem Farbdesign, mit dem in �ffentlichen Geb�uden wie Schulen, Krankenh�usern, B�ros oder Psychiatrien das Verhalten beeinflusst werden soll. Jeder kennt diese Farbfl�chen in Fluren, die durch eine horizontale Linie abgesetzt sind. Die Farbe ist im unteren Bereich immer gl�nzender lackiert, abwaschbar. Dabei experimentiert Kiwanga in den geometrisch-abstrakten Wandinstallationen mit Farbt�nen und -schemata, die Wissenschaftler*innen im fr�hen 20. Jahrhundert entwickelten und einsetzten, um in psychiatrischen Anstalten mehr „mentale Hygiene“ und Balance zu erzeugen.

Diese medizinischen Farbexperimente fanden zeitgleich mit den avantgardistischen, ebenfalls um Harmonie und Ausgleich bem�hten Anf�ngen der gegenstandslosen Malerei statt. Kiwanga nutzt f�r ihre Serie auch Farbkombinationen von Faber Birren, einem Farbtheoretiker, der in den 1920er-Jahren Monsanto, General Electric, Disney und das US-Milit�r beriet. Die Utopien der Moderne, die spirituellen, gesellschaftlichen Visionen von Piet Mondrian und den russischen Konstruktivisten, wurden hier zu Mitteln der Kontrolle und der �berwachung umfunktioniert. Zugleich spielt Kiwanga auch auf den Kontrast zwischen der sozialen Repression in der US-Nachkriegszeit und die abgehobene Transzendenz von Barnett Newmans Farbfeldmalerei, von der Malerei des Hard Edge oder der Minimal Art an. Kiwanga geh�rt sicher zu den politischsten K�nstler*innen der Ausstellung. Zugleich verdeutlicht sie, wer gerade die Diskurse in der einst von wei�en M�nnern beherrschten Abstraktion pr�gt. Es sind vor allem Frauen und K�nstler*innen aus nicht-westlichen L�ndern, die neue formale und politische Impulse geben, sich kritisch mit dem kolonialen Erbe der Moderne auseinandersetzen und sich nicht scheuen, v�llig neue Wege zu gehen.